Dossier Vor drei Jahrzehnten wurde das europäische Studentenaustauschprogramm aus der Taufe gehoben. Seitdem haben sich vier Millionen junge EU-Bürger daran beteiligt - und an Erfahrungen und beruflichen Chancen dazu gewonnen.
Es sind Erfahrungen fürs Leben: Auf sich gestellt, in einem fremden Land, oft nur mit stammelnden Fremdsprachenkenntnissen über die Runden kommen, sich von Heimweh geplagt einleben bis neue Bekanntschaften und Freunde die Sehnsucht nach der Heimat wie von selbst verfliegen lassen, Lernen und Feiern und zum Schluss die Trauer über den Abschied aus der lieb gewordenen, zweiten Heimat.
Vor 30 Jahren startete das europäische Studentenaustauschprogramm Erasmus und zog seit seiner Geburt 1987 mehr als vier Millionen Interessierte aus der Europäischen Union an. Sogar im Film wurde das Projekt, dessen Ziel die Verzahnung Europas ist, verewigt: Die Geschichte des turbulenten Auslandsaufenthalts des französischen Studenten Xavier in Barcelona erlangte mit dem Film "L'auberge espagnole" (im Bild) Kultstatus.
Doch die meisten Erasmus-Studenten gewinnen nicht nur einen unvergesslichen Erfahrungsschatz, sie haben auch bessere Berufschancen: Sie sind flexibler, besser international vernetzt und letztlich dem Projekt EU gegenüber aufgeschlossener als ihre Altersgenossen. Diese Imagepolitur in Zeiten der Europaskepsis lässt sich Brüssel einiges kosten.
Lesen Sie in unserem Dossier über die Entwicklung des Austauschprogramms in den vergangenen drei Jahrzehnten, über dessen Ziele und Ursprünge, über österreichische Pioniere, die persönlichen Erfahrungen unserer "Presse"-Redakteure - und, warum auch Österreich als Erasmus-Ziel beliebt ist.
Ein Dossier von: Susanna Bastaroli, Bernadette Bayrhammer, Wolfgang Böhm, Markku Datler, Oliver Grimm, Marlies Kastenhofer, Michael Laczynski, Friederike Leibl, Julia Neuhauser, Katrin Nussmayr und Eva Winroither
Erasmus +
Ein Stück des Lebenswegs mitten durch Europa
Über vier Millionen haben sich am Austauschprogramm beteiligt. Ein Schritt, der ihnen berufliche Chancen eröffnet und sie für das EU-Projekt positiv gestimmt hat.
Sie werden die Erasmus-Generation genannt. Jene Studenten, für die es in den vergangenen 30 Jahren zum Selbstverständnis geworden ist, einen Teil ihres Studiums in einem anderen EU-Land zu absolvieren. Diese Aufenthalte haben sie geprägt, waren für viele ein unvergessliches Erlebnis und haben nachgewiesenermaßen ihre Berufschancen erhöht. Laut einer Umfrage der EU-Kommission ist der Anteil von arbeitslosen Akademikern unter den Absolventen eines Erasmus-Studiums um 14Prozentpunkte geringer als bei jenen, die nicht im Ausland studiert haben.
Erasmus-Studenten sind flexibler, besser international vernetzt und sind letztlich auch dem Projekt EU aufgeschlossener als ihre Altersgenossen. 93Prozent der mobilen Studenten können sich vorstellen, im Ausland zu leben. Ebenso viele geben an, dass sie durch ihren Aufenthalt gelernt hätten, den Wert unterschiedlicher Kulturen zu schätzen. Sie selbst konnten zudem ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern und Anknüpfungspunkte für ihre künftige Arbeit finden.
Die EU lässt sich das einiges kosten. Für Erasmus+, das mittlerweile auch auf Nichtstudierende ausgeweitete Austauschprogramm, stehen in der Haushaltsperiode 2014–2020 insgesamt 14,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit dem Geld werden vor allem Aufenthalte gefördert. Es werden aber auch grenzüberschreitende Projekte und Forschungskooperationen unterstützt. Erasmus+ umfasst die Bereiche Studium, Ausbildung, Fortbildung, Arbeitserfahrung, Freiwilligendienste, Sport sowie die europaweite Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen und NGOs. War das Programm vorerst nur auf jugendliche Studenten zugeschnitten, so ist es nun für Interessierte aller Altersgruppen offen.
Auch bei den Berufspraktika zeigt das Programm in der Zwischenzeit positive Auswirkungen. So wird rund einem Drittel der Teilnehmer vom Gastunternehmen im Anschluss an ihren Erasmus-Aufenthalt ein Job angeboten.
Das Studienaustauschprogramm in Zahlen.Presse Grafik
1987 startete das Programm der Europäischen Gemeinschaft mit 3244 Studenten. Mittlerweile nehmen jährlich rund 300.000 Hochschulstudenten und weitere Tausende, die unter anderem als Lehrling ein Berufspraktikum in einem anderen EU-Land absolvieren oder als Lehrpersonal an europäischen Bildungseinheiten unterrichten, teil. Die jeweilige Aus- und Weiterbildung im Ausland wird auch in Österreich anerkannt. So verlängern die Aufenthalte nicht automatisch die Studien- oder Lehrzeit. Die Gesamtzahl jener, die von Erasmus+ bisher in der EU profitiert haben, liegt bei rund 4,4 Millionen.
Das EU-Programm wurde zwar bewusst nach dem Humanisten und reiselustigen Gelehrten Erasmus von Rotterdam benannt, steht aber eigentlich für European Community Action Scheme for the Mobility of University Students. Sein Ziel ist es, die Mobilität von EU-Bürgern zu erhöhen und die Universitäten durch einen regen Austausch von Studenten und Lehrpersonal besser zu vernetzen. Letztlich geht es darum, EU-Bürger auf eine Zukunft in einer stärker globalisierten und internationalisierten Welt vorzubereiten. Individuelle Erfahrungen, aber auch statistische Auswertungen deuten daraufhin, dass diese Ziele durch Erasmus+ erfüllt werden.
Offenheit für Mobilität und Kulturen
Die Möglichkeit, drei bis zwölf Monate im EU-Ausland zu verbringen, nahmen bisher rund 90.000 österreichische Studenten wahr. Ihr beliebtestes Zielland war Spanien, gefolgt von Frankreich und Großbritannien. Praktika wurden wegen der nicht vorhandenen Sprachhürde am liebsten in Deutschland absolviert.
Viele Absolventen berichten, dass sich durch die Teilnahme nicht nur ihre Fremdsprachenkenntnis verbessert hätte, sondern auch ihr Selbstbewusstsein. Meist haben sie Kontakt nicht nur zu ortsansässigen Kollegen geschlossen, sondern auch zu anderen internationalen Studenten. So hat sich in den Monaten im Ausland auf natürliche Weise ein Netzwerk von Bekannten aufgebaut, das ihnen auch nach dem Studium noch zur Verfügung steht. Diese Kontakte erhöhen nicht nur die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen, sondern können auch beruflich genutzt werden.
Erasmus ist mit großer Wahrscheinlichkeit das effizienteste Programm, um EU-Bürgern das gemeinsamen Europa näherzubringen. Die Offenheit der Absolventen für das Zusammenleben unterschiedlicher Nationen spiegelt sich sogar in ihrem Privatleben wider. Rund ein Drittel der Erasmus-Studierenden hat einen Lebenspartner beziehungsweise eine Lebenspartnerin mit einer anderen Staatsangehörigkeit. Normalerweise sind es in dieser Altersgruppe lediglich 14 Prozent, die mit Partnern aus anderen Ländern zusammenleben.
Meine Familie hätte mich schonst niemals ins Ausland schicken können.
Jyrki Katainen, ehemaliger finnischer Ministerpräsident und EU-Kommissar
Und auch die EU-Institutionen, die seit Jahren mit Imageproblemen kämpfen und die Freizügigkeit von EU-Bürgern im Binnenmarkt verteidigen müssen, können auf das Programm zählen. Eine Erhebung der EU-Kommission aus dem Jahr 2014 kam zu dem Ergebnis, dass sich 80 Prozent der Erasmus-Absolventen als „Europäer“ fühlen. Bei den nicht mobilen Studenten sind es hingegen nur 70 Prozent. Die Umfrage wurde sowohl vor als auch nach dem Aufenthalt im Ausland durchgeführt, um eventuelle Veränderungen der Einstellung darstellen zu können. Dabei wurde deutlich, dass sich viele Teilnehmer eher nach ihrem Aufenthalt als noch davor vorstellen konnten, in einem anderen EU-Land zu arbeiten.
Als wichtigster Grund für die Bewerbung gaben die befragten Studenten übrigens die Möglichkeit an, für eine Zeit im Ausland zu leben. Das Programm bietet nämlich auch jenen eine Chance, Auslandserfahrungen zu machen, die sich diese allein durch familiäre Zuwendungen kaum leisten könnten. Der ehemalige finnische Ministerpräsident und spätere EU-Kommissar Jyrki Katainen erzählt, dass er ohne diese Hilfe der EU nie außerhalb seiner Heimat hätte studieren können. „Meine Familie hätte mich sonst niemals ins Ausland schicken können.“
In der Praxis reicht die finanzielle Unterstützung von durchschnittlich 300 Euro im Monat (je nach Gastland an das Preisniveau angepasst) freilich kaum für alle Aufenthaltskosten aus. Studiengebühren fallen in dieser Zeit zwar keine an, doch selbst günstige Unterkünfte sind damit kaum abzudecken. Studierende und Lehrende erhalten zusätzlich zu den Aufenthaltskosten einen einmaligen Reisekostenzuschuss, der sich nach der Distanz zwischen Heimat- und Gasthochschule richtet. Sonderhilfen gibt es für Behinderte und besonders sozial benachteiligte Teilnehmer.
Nach und nach ausgeweitet
Vor 30 Jahren haben sich lediglich elf Länder an Erasmus beteiligt: Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Irland, Italien, Niederlande, Portugal, Spanien und Großbritannien. Mittlerweile sind es 33 Länder, darunter alle EU-Staaten, Norwegen, Island, Liechtenstein, die Türkei und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Die Schweiz hat einen Sonderstatus mit eingeschränkter Teilnahme. Österreich nimmt seit 1992 teil.
Da sich das Erasmus-Programm auch in Großbritannien großer Beliebtheit erfreut, wurde die fortgesetzte Teilnahme des Landes nach dessen EU-Austrittsentscheidung heftig diskutiert. Viele Universitäten fürchteten, von ihrer Kooperation mit Bildungseinrichtungen in den anderen Mitgliedstaaten abgeschnitten zu werden. Britische Studenten, die selbst gern ein oder mehrere Semester in anderen EU-Städten verbringen würden, bangen um diese attraktive Möglichkeit. In Appellen wird die britische Regierung deshalb gedrängt, zumindest die Erasmus-Kooperation beizubehalten. Der Austritt Großbritanniens würde auch heimische Studenten treffen. Vergangenes Jahr nahmen 442 österreichische Studenten das EU-Austauschprogramm für einen Aufenthalt auf der Insel in Anspruch. Weitere 171 absolvierten dort Praktika.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Der Weg zu einem erfolgreichen Aufenthalt im Ausland
Um einen geförderten Studienplatz an einer europäischen Universität zu bekommen, sind Vorbedingungen zu erfüllen, eine Bewerbung abzugeben und zahlreiche bürokratische Hürden zu meistern. Ein Stück Glück gehört bei der Vergabe natürlich auch dazu.
Das EU-Programm Erasmus+ bietet für zahlreiche Personengruppen Möglichkeiten, Erfahrungen im Ausland zu sammeln. Die nach wie vor größte und wichtigste Gruppe sind Studenten. Wir zeigen, was bei einer Bewerbung zu beachten ist, wie sie abläuft und gibt weitere Tipps.
• Universität auswählen. Die meisten Hochschulen bieten eine Online-Plattform zu freien Erasmus+-Plätzen. Auf diesen Seiten sind die Partneruniversitäten angeführt, bei denen ein Aufenthalt in den kommenden Semestern möglich ist. Es ist zu empfehlen, mehrere Optionen auszuwählen. Bei der Entscheidung ist die an der Universität genutzte Sprache von Bedeutung. Für diese Sprache muss nämlich ein Befähigungsnachweis (oft reicht das Maturazeugnis) vorgelegt werden. Weiters ist zu beachten, dass die ausgewählte Universität beim gewählten Studienschwerpunkt ausreichende Angebote bietet. Die verfügbaren Plätze werden meist für ein Semester oder ein ganzes Studienjahr angeboten. Auch das sollte in der persönlichen Planung berücksichtigt werden. Für die einzelnen Plätze sind Erasmus-Koordinatoren zuständig, die künftig auch Ansprechpartner bei der Bewerbung sind.
• Registrierung. Für eine Teilnahme ist eine einmalige Registrierung bei der zuständigen Stelle der Heimuniversität notwendig. Diese Online-Anmeldung soll die Organisation der Bewerbung erleichtern und sowohl für den Erasmus-Koordinator als auch für die Studenten einen Überblick zum Stand der Bewerbung ermöglichen.
Abwicklung der Stipendien und wichtige Details beim OeAD
Der Österreichische Austauschdienst OeAD ist für die Mobilität von Studenten und allen anderen Bewerbern (z.B. Fachkräfte) zuständig. Die Agentur wickelt unter anderem die Auszahlung von Erasmus-Stipendien ab, bietet aber auch wertvolle Informationen zur Vorbereitung des Auslandsaufenthalts.
EU-Kommission informiert über gesamtes Erasmus+-Programm
• Bewerbung. Bei der Bewerbung sind vorrangig die Fristen zu beachten. Meist gibt es einen Einreichtermin im Frühjahr und einen im Herbst. Folgende Unterlagen sind für eine erfolgreiche Bewerbung Voraussetzung: Erstens ein vollständig ausgefüllter Bewerbungsbogen. Zweitens müssen in einem Motivationsschreiben die Gründe für den Auslandsaufenthalt beschrieben werden. Erwartet wird, dass hier auch klargestellt wird, was den Studenten für die Teilnahme qualifiziert. Außerdem soll die Auswahl der jeweiligen Universität begründet werden. Drittens ist ein Nachweis zu den bisherigen Studienleistungen der Bewerbung anzuschließen. Voraussetzung für ein Erasmus-Stipendium ist zumindest das absolvierte erste Jahr eines Grundstudiums. Viertens ist ein Nachweis über die Unterrichtssprache an der ausgewählten Universität zu erbringen. Neben diesen Unterlagen werden auch ein Lebenslauf sowie die Kopien wichtiger Dokumente wie etwa des Staatsbürgerschaftsnachweises oder der E-Card gefordert.
• Auswahlverfahren. Im Auswahlverfahren an der Heimuniversität werden der bisherige Studienerfolg sowie die Eignung der ausgewählten Universität berücksichtigt. In einigen Fällen findet ein kurzes persönliches Hearing statt. Die erfolgreichen Bewerber werden von der zuständigen Stelle ihrer Universität benachrichtigt und auf weitere notwendige Schritte vorbereitet. Auch die Partneruniversität wird mit den Kandidaten Kontakt aufnehmen. Möglicherweise sind hier weitere Unterlagen zu übermitteln. • Stipendien. Nach einer erfolgreichen Zuteilung kann das Erasmus-Stipendium eingereicht werden. Der OeAD, der Österreichische Austauschdienst, ist mit der Auszahlung der Zuschüsse für alle österreichischen Erasmus-Teilnehmer beauftragt. Dafür notwendig ist eine Registrierung bei der OeAD-Datenbank. Die Stipendienhöhe richtet sich nach dem Preisniveau im ausgewählten Land und liegt derzeit (2017) bei 282 bis 333 Euro pro Monat. 80 Prozent des Gesamtbetrags werden bei Antritt des Aufenthalts, die restlichen 20 Prozent nach dem Aufenthalt ausbezahlt. Darüber hinaus gibt es einen Reisekostenzuschuss. Den Teilnehmern wird auf Antrag für ihre Zeit im Ausland auch die Studiengebühr erlassen. Dies gilt sowohl für die Heim- als auch für die Gastuniversität.
• Reisevorbereitungen. Die Universitäten helfen den Bewerbern zwar bei der organisatorischen Vorbereitung ihres Aufenthalts. Selbstständig müssen die Studenten aber eine geeignete Unterkunft ausfindig machen, sich mit den Gegebenheiten vor Ort beschäftigen und ihre Reise organisieren. Bei Unterkünften helfen in vielen Fällen die Gastuniversitäten.
Wie reisende Studenten die EU prägen
Vor drei Jahrzehnten wurde das europäische Studentenaustauschprogramm aus der Taufe gehoben. Bis dato haben mehr als vier Millionen junge EU-Bürger die Vielfalt Europas schätzen gelernt.
„Wir haben Italien geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen.“ Als der 1866 verstorbene Schriftsteller und Politiker Massimo d'Azeglio diese Worte sprach, war der italienischen Vereinigungsprozess noch nicht gänzlich abgeschlossen – doch noch bevor Rom und der vatikanische Kirchenstaat als letzte Puzzlesteine das neu gegründete Königreich Italien im Jahr 1870 vervollständigten, hatten sich die Proponenten des Risorgimento Gedanken darüber gemacht, wie sich aus den kulturell heterogenen Bewohnern der apenninischen Halbinsel eine Nation schmieden ließe. Ihre Antwort auf diese drängende Frage lautete: Durch Bildung und Kultur.
Im Zuge der nächsten Jahrzehnte gingen die Regierungen daran, Italienisch, das Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich von einer bildungsbürgerlichen Minderheit gesprochen wurde, als Volkssprache zu etablieren. Und zugleich ließen sie Kulturschaffende wie Giuseppe Verdi als gesamtitalienische Heroen feiern.
Für die europäische Integration in den Nachkriegsjahren spielten Bildung und Kultur zunächst einmal eine untergeordnete Rolle – prioritär ging es darum, ein möglichst dichtes Netz wirtschaftlicher Abhängigkeiten zu knüpfen, um die Kriegsgegner von einst friedlich aneinanderzubinden und längerfristig zu zähmen. Durch Montanunion, Euratom und den Binnenmarkt gelang dies auf eine spektakuläre Weise – und der gemeinsam geschaffene Wohlstand schuf Spielräume für weitere Annäherung.
Ein echter Europäer ist polyglott, hoch qualifiziert (...) und befreit von der Irrationalität nationaler Identität“
Robert Menasse
Die Bildungspolitik war in dieser Hinsicht ein Nachzügler. Erst in den 1970er-Jahren fing man in Brüssel damit an, sich mit der Agenda zu befassen – stets unter der Prämisse, wonach kulturelle Vielfalt Europas zu schützen sei. Die Brüsseler Behörde zielte vielmehr darauf ab, Spracherwerb und Mobilität zu fördern, ohne die Bildungssysteme der Mitgliedstaaten über einen Kamm scheren zu wollen.
Absage an Sektierertum
Dass das Studentenaustauschprogramm Erasmus mittlerweile zu den größten und breitenwirksamsten Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses zählt, ist somit kein Zufall. Das 1987 ins Leben gerufene Programm entspricht ziemlich genau dem Ideal eines friedlich ineinander verzahnten Europa: Es zelebriert erstens die Vielfalt, ist zweitens eine klare Absage an giftiges Sektierertum, und es lehrt drittens, mentale Grenzen zu überschreiten und stets nach Kooperationsmöglichkeiten Ausschau zu halten.
Anders als bei den eingangs angesprochenen Bemühungen zur Schaffung des monoglotten und -kulturellen Italieners ist die Heterogenität ein essenzieller Bestandteil dieser europäischen Wunschidentität. Ein echter Bürger der Europäischen Union ist demnach „polyglott, hoch qualifiziert, aufgeklärt, verwurzelt in der Kultur seiner Herkunft, allerdings befreit von der Irrationalität einer sogenannten nationalen Identität“, wie es Robert Menasse in seinem Essay „Der europäische Landbote“ schreibt. Anders gesagt: Das 19. und 20. Jahrhundert standen im Zeichen einer Leitkultur, der sich alles unterzuordnen hatte; wer allerdings im 21. Jahrhundert erfolgreich sein will, schöpft die Kraft aus der kulturellen Vielfalt.
Vielfalt und Harmonisierung
Dass der vielgereiste Universalgelehrte Erasmus von Rotterdam (siehe Seite 3) zum Schutzpatron des Studentenaustauschprogrammes auserkoren wurde, war ein bewusster Verweis auf die historischen Wurzeln dieser Vielfalt. Die Biografie des Humanisten bietet eine weitere Parallele: Erasmus war nämlich Angehöriger der spätmittelalterlichen „Mittelschicht“. Und auch heute kommt das Austauschprogramm vor allem der gebildeten, leistungsaffinen Mitte der europäischen Gesellschaften zugute – was zunächst einmal kein Defizit sein muss, denn diese Mitte ist zahlenmäßig stark, wie die Tatsache belegt, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als vier Millionen (vor allem junge) EU-Bürger das Förderprogramm in Anspruch genommen haben.
Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst.
Erasmus von Rotterdam
Die Erfolgsgeschichte von Erasmus ist zugleich aber auch die klassische europäische Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen den gegensätzlichen Wünschen nach Vielfalt und nach Harmonisierung. Dass das Studentenaustauschprogramm derart reibungslos funktioniert (siehe Seiten 2 und 3), hängt nicht zuletzt mit dem European Credit Transfer System (ECTS) zusammen, das 1999 im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses eingeführt wurde, um die universitären Lernerfolge innerhalb der EU miteinander vergleichbar zu machen.
Im Gegensatz zum beliebten Erasmus-Programm ist Bologna nach wie vor umstritten – immer wieder protestieren Studenten wie Lehrende, dass im Zuge der Reform die Studiengänge verschult worden sind und in Folge an intellektuellem Wert verloren haben, während Unternehmen beklagen, die Absolventen wüssten zwar viel von ECTS-Punkten, aber wenig von der Materie.
Diese Kritik mag berechtigt sein oder nicht, sie zeigt jedenfalls auf, wo der wahre Wert des europäischen Studentenaustauschprogramms liegt: in der befreienden Erfahrung der Grenzüberschreitung, die den Erasmus-Studenten die Möglichkeit gibt, ihre bis dato als selbstverständlich hingenommenen Gewohnheiten und Glaubenssätze zu hinterfragen, mentale Schranken fallen zu lassen und den Erfahrungsschatz zu mehren. Oder, um mit den Worten des großen Humanisten aus Rotterdam zu sprechen: „Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Kosmopolit, Humanist und „erster Europäer“
Der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam gab dem EU-Programm seinen Namen.
Als unehelicher Sohn eines Priesters und seiner Haushälterin im Rotterdam des 15. Jahrhundert geboren zu werden, ist wohl nicht der leichteste Start ins Leben. Doch für Geert Geerts, wie Erasmus von Rotterdam bei der Geburt eigentlich hieß, ist dies kein Problem. Er entwickelt sich zu einem äußerst gelehrigen Schüler, studiert, wird Priester, ist Autor zahlreicher Bücher und wird letztendlich der wohl bedeutendste niederländische Humanist und Gelehrte seiner Zeit.
Er lebt und lehrt in zahlreichen europäischen Städten und kämpft in seinen Schriften schon damals mit Weitblick für das Ideal eines einheitlichen Europa. Die Grundkonflikte, die er beschreibt, sind ähnlich wie heute: Die Einheit Europas ist bedroht durch immer stärkere Aufwallungen nationaler Ideen. Der Schriftsteller Stefan Zweig schreibt in einem Buch über Erasmus, „dass er unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewusste Europäer gewesen ist, der erste streitbare Friedensfreund“.
Eine Persönlichkeit, die wohl wie geschaffen ist, dem europäischen Studienaustauschprogramm Erasmus den Namen zu geben. Wenngleich es da noch eine zweite Namensversion gibt: Erasmus ist gleichzeitig eine Abkürzung von „European Region Action Scheme for the Mobility of University Students“.
Guter Rhetoriker und Vielschreiber
Doch kehren wir zurück ins Mittelalter. Wann genau Erasmus von Rotterdam geboren wird ist unklar. Nach Meinung vieler Historiker ist es 1466. Erasmus (den Namen gibt ihm sein Vater nach dem Heiligen Erasmus von Formia) ist ein Junge, der alles Wissen in sich aufsaugt. Er lernt in einer Lateinschule perfekt diese Sprache und schließlich auch Griechisch. Er geht zu den Augustiner-Chorherren, wo er 1492 zum Priester geweiht wird, verlässt das Kloster aber bald wieder und wird Gelehrter, Schriftsteller, Übersetzer; er studiert an der Sorbonne Theologie und studiert auch in England, wo er Thomas Morus kennen und schätzen lernt.
Seine Ideen und Visionen schreibt er nieder und macht sie – dank der jungen Buchdruckkunst – in ganz Europa publik. Er ist ein guter Rhetoriker und vor allem ein Vielschreiber. Über 150 Bücher verfasst er, fast ausschließlich in Latein und Griechisch, dazu veröffentlicht er viele Übersetzungen und 2000 Briefe. 1516 gibt er das Neue Testament in Griechisch heraus. Das wohl bekannteste Werk ist eine Satire, das „Lob der Torheit“ aus dem Jahr 1509.
Obwohl selbst ursprünglich Priester, tritt Erasmus der Kirche sehr kritisch entgegen. Er spart nicht mit harter Kritik am Klerus und frömmelnden Menschen. Doch mit Martin Luther, der damals seine reformatorischen Ideen verbreitet und dabei gegen den Papst auftritt und klerikalen Missbrauch kritisiert, verbindet ihn dennoch nur wenig. Luther ist der rücksichtslose Revolutionär, Erasmus der gemäßigte Reformer. Erasmus stirbt 1536 in Basel an Typhus. In dieser Schweizer Stadt verbringt er viel Zeit. Doch als ihm das Bürgerrecht angeboten wird, lehnt er ab. „Ich wünsche Weltbürger zu sein.“
Pionier
"Das war meine Initiation als praktizierender Europäer"
Richard Kühnel war einer der allerersten österreichischen Erasmus-Studenten. In Lyon sparte er für gutes Essen, spielte Pétanque im Park und erfuhr, was Europa wirklich bedeutet. Heute ist er als Vertreter der EU-Kommission die Brücke zwischen Brüssel und Berlin.
„Es war eine Entdeckungsreise ins Unbekannte“, sagt Richard Kühnel über sein Erasmus-Jahr in Lyon. Und zwar eine Entdeckungsreise im doppelten Sinn. Nicht nur, weil es für den Juristen erstmals für längere Zeit in ein anderes Land ging: nach Frankreich. Sondern auch, weil damals, vor mittlerweile 25 Jahren, noch niemand recht wusste, wie dieses Erasmus eigentlich genau funktionierte. „Keiner hat gewusst, was auf einen zukommt – nicht die Studenten, nicht die Lehrenden und auch nicht die Uni-Verwaltung“, erzählt der 47-Jährige.
Man schreibt das Jahr 1992 – ein Jahr, in dem Österreich seine ersten 893 Studierenden per Erasmus ins europäische Ausland geschickt hat. Unter dieser allerersten Generation österreichischer Erasmus-Studierenden ist auch der damals 22-jährige Jusstudent Richard Kühnel, für dessen spätere Karriere das Jahr in Lyon prägend sein sollte: Als Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland ist er heute gewissermaßen die Brücke zwischen Brüssel und Berlin. „Und dieses Jahr in Frankreich war sozusagen meine Initiierung als praktizierender Europäer.“
Kein Zimmer, keine Wohnung
Doch von vorn. „Ich war damals schon fast mit dem Studium fertig und wollte unbedingt ein Auslandssemester machen“, erinnert sich Kühnel, der gerade auf Heimaturlaub in Graz ist. „Da ich damals schon den Berufswunsch Diplomat hatte, wollte ich unbedingt in ein französischsprachiges Land, um mein Schulfranzösisch zu verbessern.“ Er recherchiert, er sucht nach Möglichkeiten, um ins Ausland zu gehen, als das Erasmus-Programm nach Österreich kommt. Kühnel bewirbt sich („Wir waren in Graz 32 Interessenten für 29 Studienplätze im Ausland“) für Lyon. „Für einen Grazer hatte es irgendwie Charme, nicht in die größte, sondern in die zweitgrößte Stadt Frankreichs zu gehen.“
An den Tag, an dem er mit dem Auto im Südosten Frankreichs ankommt, erinnert er sich noch gut. „Es war Nachmittag, es war schon recht spät, ich hatte kein Zimmer und keine Ahnung, wo ich wohnen würde“, erzählt er. Kein Problem: Die Uni-Verwaltung weist ihm ein Studentenzimmer zu, in das er nur wenige Stunden später einzieht. „Neun Quadratmeter, sogar ein kleiner Balkon: Das ist sich finanziell ausgegangen.“
Wissenschaftsminister Erhard Busek verabschiedet die ersten österreichischen Erasmus-Studenten auf dem Westbahnhof.SCHNARR Ulrich / APA / picturede
Ein Besuch bei Paul Bocuse
Die Zahl der anderen Nichteinheimischen an der Université Lyon 2 – einer von insgesamt drei Universitäten in der 500.000-Einwohner-Stadt – ist überschaubar. „So etwas wie im Film ,L'Auberge Espagnole‘ gab es damals nicht. Große Erasmus-Partys, eine Community von ausländischen Studenten: Das war damals noch überhaupt nicht institutionalisiert.“ Kühnel schreibt sich für Völkerrecht und internationale Beziehungen ein („Das haben wohl die meisten Auslandsstudenten getan“). „Aber das Wichtigste sind ja nicht die Prüfungen, das sind die Sprache, die Menschen und die Kultur.“ Er habe in seinem Jahr in Lyon wirklich versucht, in die französische Lebensart einzutauchen.
Dazu gehört natürlich auch das Essen. Damit er ein bisschen von der wahren französischen Küche mitbekommt, spart er. „Unter der Woche habe ich versucht, mit zehn Francs, also 20 Schilling pro Tag auszukommen, um dann am Wochenende in ein gutes Restaurant zu gehen“, erzählt Kühnel. „Der kulinarische Höhepunkt war ein Essen bei Meisterkoch Paul Bocuse – das hat allerdings mein Vater finanziert.“ Eine andere kulturelle Erfahrung: Pétanque – hierzulande auch bekannt als Boule. „Jeden Sonntag gab es bei uns im Park Pétanque. Klassisch, mit alten Franzosen, die im Ruderleiberl und mit der Zigarette im Mund ihren Nachmittag verbracht haben.“ Mit denen habe er regelmäßig mitgespielt. Und es am Schluss sogar zu einer gewissen Expertise gebracht.
Richard Kühnel arbeitet heute bei der EU-Kommission.Vertretung der EU-Kommission in
Ungewöhnlich findet er den Umgang mit den Professoren. „Ich war es aus Österreich gewöhnt, da und dort auch mit den Professoren anderer Meinung zu sein. Das ging in Frankreich gar nicht.“ Er könne sich an die entsetzten Blicke der französischen Mitstudenten erinnern, als er einmal in einer Vorlesung gewagt habe, dem Professor etwas entgegenzusetzen. „Vor allem die anderen Studenten waren da schockiert.“
„Von den Sprachkenntnissen gezehrt“
Nach Erasmus geht es für Kühnel rapide weiter in Richtung Europa. Eine Minirückkehr nach Graz („Eigentlich nur für die letzte Strafrechtsprüfung und für die Sponsion“), dann gleich weiter für ein Praktikum nach Brüssel und dann nach Florenz mit der Idee, dort ein Doktorat zu machen – das er letztlich niemals abschließt, weil er inzwischen die Aufnahmeprüfung im Außenministerium für den Diplomatischen Dienst besteht. Er beschäftigt sich zuerst mit Osteuropa, dann mit Japan. Er geht nach New York und dann mit der damaligen EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner (ÖVP) nach Brüssel. Vor acht Jahren kommt er als Vertreter der EU-Kommission wieder nach Wien, seit drei Jahren hat er die gleiche Funktion – die Ideen aus Brüssel mit dem jeweiligen Mitgliedstaat abzustimmen – nun in Berlin.
„Für den Berufsweg hat die Auslandserfahrung enorm viel mitgespielt“, sagt Kühnel. Nicht nur, weil er, wie er sagt, in seinen ganzen ersten Berufsjahren von seinen vertieften Französischkenntnissen aus Lyon gezehrt habe („Wenn man in einem anderen Land lebt und den Alltag bewältigen muss, hat man eine ganz andere Basis“). Sondern auch, weil Erasmus aus einem theoretischen Europäer einen praktischen mache, sagt er. „Ich bin aus der 89er-Generation: die Wende, das Zusammenwachsen Europas, der österreichische Beitrittsantrag an die EU. Aber das war eher Theorie“, sagt er. „Wie man in der Praxis wirklich zum Europäer werden kann, das habe ich zum ersten Mal in Lyon erfahren.“
AUF EINEN BLICK
Mit 893 Studenten startete Österreich im Herbst 1992 ins Erasmus-Programm – Richard Kühnel, heute Vertreter der EU-Kommission in Brüssel, war damals einer von ihnen (siehe Artikel links). Seitdem hat Österreich mehr und mehr Studierende mit Erasmus ins Ausland geschickt. Zuletzt waren es im Herbst 2015 fast 5000 Studierende.
Insgesamt waren zwischen 1992 und 2017 mehr als 100.000 österreichische Erasmus-Studenten im Ausland. Darunter sind auch andere Prominente, etwa der Schauspieler und Regisseur Michael Ostrowski, der ab Herbst 1993 ein Jahr im britischen Oxford verbracht hat (siehe Artikel rechts oben).
Gestartet wurde Erasmus im Jahr 1987 mit elf europäischen Ländern. Fünf Jahre danach stieß auch Österreich dazu.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Redakteure erzählen
Edinburgh: Diese Liebe hat mich nie enttäuscht
Im Kino lief "Braveheart", im Radio Blur und England schied im Elfmeterschießen gegen Deutschland aus. Warum man bei Noah Chomsky immer noch an Whisky denken muss und was die EU damit zu tun hatte.
„Du musst Whisky trinken lernen“, sagte meine Tante, die seit mehr als 40 Jahren in Südengland lebt. „Sonst brauchst du dort gar nicht hinfahren.“ Mir grauste vor Whisky, aber für Schottland hätte ich alles auf mich genommen. Also ließ ich mich von ihr unterrichten: Zuerst einen Tropfen Whisky mit viel Wasser trinken, dann noch einen und noch einen, bis es mich nach tagelangem Training endlich nicht mehr schüttelte. Das war die Kür, vor der Abreise nach Edinburgh, die Pflicht war schon erledigt.
Nur eine Handvoll Studienplätze waren für Schottland ausgeschrieben gewesen und die Umstände waren nicht einfach: Die erste Hälfte des Anglistikstudiums musste mit einem Schnitt möglichst nah bei Eins abgeschlossen sein und es gab eine Befragung durch eine Kommission, was als heikelster Moment der ganzen Bewerbungsprozedur galt. Gegen Ende des Interviews fragte die Literaturprofessorin, eine gebürtige Engländerin, nach meinem schottischen Lieblingsschriftsteller. Blackout. Mir fiel kein einziger Name ein. „I really really really want to go there“, sagte ich flehentlich und schoss in Verzweiflung ein „Sir Walter Scott!“ nach.
Anglistikstudenten kann man vieles nachsagen, aber eine Obsession mit Scott ist ausgeschlossen. „Ivanhoe“ und „Rob Roy“ unter Zeitdruck zu lesen, ist wie Schwimmen gegen den Strom. Die Professorin zwinkerte mir zu, es wirkte verschwörerisch. Ich bekam den Studienplatz an der University of Edinburgh. Als Buße belegte ich dort dann ein Seminar über den schottischen Nationaldichter Robbie Burns. Dagegen war Scott eine Fingerübung gewesen.
Die ersten Vorlesungen zur schottischen Literatur verließ ich den Tränen nahe.
Friederike Leibl
Die wahren Gründe für meine Sehnsucht nach Schottland waren romantisch: Mit 13 hatte Christopher Lambert als „Highlander“ mein Herz erobert, seit damals war klar, wo ich unbedingt einmal leben, atmen, sein wollte: in den Highlands. Das konnte man einer Erasmus-Kommission aber nur schwer gestehen.
„Du brauchst eine ordentliche Windjacke mit Kapuze“, sagte die Tante zum Abschied noch. „Und keinen Schirm.“ Wenn man in Edinburgh aus dem Zug steigt, trifft einen die Schönheit der Stadt wie ein Blitz. Den Rest erledigt der ständige Wind. Er trug die Töne des Dudelsackspielers, der täglich neben der Princes Street spielte, überall hin. Das tröstete über die erste Verzweiflung hinweg, das Studentenheim nicht zu finden und nichts von dem zu verstehen, was die Menschen antworteten, wenn man nach dem Weg fragte.
Die Sprache blieb in den ersten Monaten auch das größte Problem. Ein Noah Chomsky-Seminar beim bekanntesten Linguisten Schottlands? Wahnsinnig interessant, nur leider verstand ich kein Wort. Die ersten Vorlesungen zur schottischen Literatur verließ ich den Tränen nahe. Skripten von Mitstudenten, an die man in Wien immer irgendwie gekommen war, gab es hier nicht. Es blieb nur der Weg in die Bibliothek, um alles nachzulesen.
Lernen, trinken, tanzen
Auch am Wochenende war die „Library“ der Ort, wo man sich wie selbstverständlich traf, zum Lernen, zum Schreiben, niemand hatte einen eigenen Internetanschluss. Kam die Sonne heraus, verlagerten sich Grüppchen in den Park, egal, bei welchen Temperaturen. Die wenigen Sonnenstrahlen waren heilig. So heilig war sonst nur der Gang ins Pub. Alles war hier intensiver als daheim: Das Lernpensum, der Ehrgeiz der Studierenden, das Trinken, die Leidenschaft für Musik. Um die stand es damals, am Höhepunkt des Britpop, auch so gut wie nie mehr wieder.
Intensiv war auch die Erfahrung, wie tief die Abneigung gegen England wurzelte. Die Vorstellungen von „Braveheart“ waren wochenlang ausverkauft. Bei jedem toten Engländer johlte der Kinosaal auf wie nach einem verwerteten Elfmeter. Und als England gegen Deutschland bei der Fußball-EM, noch dazu im eigenen Land, unterlag, war der Jubel in den Pubs grenzenlos. Man hielt lieber zu den Deutschen als jemals zu England. Aber so rau die Töne waren, so sehr prägte ironischer Witz die Begegnungen im Alltag.
Und dann ging es mit Studienkolleginnen endlich Richtung Norden in die Highlands. Den „Lassies“ vom Kontinent, endlich ein wenig der schottischen Sprache mächtig, konnten nun auch der Linksverkehr oder die Schafe auf der Straße nichts mehr anhaben. In Oban brachte uns die Destillerie fast um den Verstand, auf der Isle of Skye der Blick über die atemberaubende Mondlandschaft. Die Sehnsucht aus Teenagerzeiten war ein guter Kompass gewesen, und diese Liebe hat mich nie enttäuscht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Amsterdam: Man ist doch nicht nur zum Studieren hier!
Warum sich ein Erasmus-Semester auch lohnt, wenn die Gast-Uni zum Verzweifeln ist. Und was ein rostiges Fahrrad mit der Amsterdamer Unterwelt zu tun haben könnte. Ein paar Erinnerungen.
Meinen Schlüssel zur Stadt erhielt ich an meinem dritten Tag in Amsterdam: Er war schwarz, hatte einen knallorangefarbenen vorderen Kotflügel, einen rostigen Lenker und ein schweres Kettenschloss, das allein den Kaufpreis wert war. Für 20 Euro erwarb ich das Eingangrad – mehr wäre bei der niederländischen Topografie auch maßlos übertrieben – von einer Erasmus-Kollegin. Viel wusste ich über die Provenienz des Rads nicht. Dass es eine ereignisreiche Geschichte haben könnte, wurde mir bewusst, als ich es erstmals zum Service brachte: Wo ich das Rad denn her habe, fragte der Mechaniker ganz geheimnisvoll – und ließ anmerken, dass er es wiedererkannt habe . . .
Wilde Ideen füllten meinen Kopf: War der Vorbesitzer eine schillernde Figur der Amsterdamer Bikerszene? Ein Unterhändler der Drogenmafia, der im Rahmen eine geheime Information versteckt hatte? Oder hatte das Rad schlicht der Tochter des Mechanikers gehört und war ihr gestohlen worden, bevor es über den florierenden Fahrradschwarzmarkt in Umlauf geriet und schließlich bei mir landete?
Studentenheim im Nirgendwo
Ich sollte es nicht herausfinden. Es blieb der aufregende Gedanke, dass es ein besonderes Gefährt war, das mich ein Semester lang im Frühling 2013 durch das niederländische Flachland trug. Und Mobilität war wichtig: War ich schließlich nicht, wie erträumt, in einem der schmucken schiefen Häuschen in der Amsterdamer Innenstadt gelandet, sondern in einem zehnstöckigen Studentenheim am unwirtlichen Stadtrand. Meine Nachbarn waren allesamt internationale Studenten, von denen ein nicht unerheblicher Teil der erhofften Rauscherfahrungen wegen in die Stadt gekommen war. Klischee olé.
Natürlich gab es auch genug Kollegen, die nicht nur in Sachen Cannabis abenteuerlustig waren. Gemeinsam trat man also an, die Stadt zu entdecken, ihre Märkte und Straßenfeste, ihre Hipstercafés und Partyviertel, man fuhr zu Museen und Seen, bewunderte Tulpenfelder und Kunst aus Industrieschrott, saß am Rand der Grachten, trank Bier aus winzigen Gläsern und kam sich dabei sehr kosmopolitisch vor.
Bereut habe ich es trotzdem nie.
Katrin Nussmayr
Und man studierte. Die Hochschule, die ich dort besuchte, war aber von Beginn an eine Kompromisslösung gewesen: Eine andere Uni hatte die Fächer, für die ich ursprünglich angemeldet war, kurzfristig eingestellt, ich brauchte innerhalb einer Woche Ersatz – denn das Zeitfenster, in dem man im Rahmen meines FH-Studiums für Journalismus „auf Erasmus gehen“ konnte, war knapp. Ich stieß auf eine Hochschule namens Inholland, von der ich noch nie gehört hatte. Die Website war knallig, die Vertreterin am Telefon freundlich, die Last-Minute-Organisation erstaunlich unkompliziert. Besser auf irgendeine Uni als auf gar keine, dachte ich mir. Die Hochschule stellte sich dann als furchtbare Wahl heraus, mit inkompetenten Lehrenden und erschreckend niedrigem fachlichen Niveau. Aber immerhin war ich auf Erasmus.
Bereut habe ich es trotzdem nie. Es war eine Zeit voller Reisen, Einblicke in die niederländische Lebenskunst und Freundschaften, die bis heute halten. Und es ist aufregend, eine Stadt zu erkunden, bis man jede Ecke zu kennen meint – und gar nicht mehr verwundert schaut, wenn eine Familie beim Umzug ihr Klavier durchs Fenster in den zweiten Stock hievt, weil die Amsterdamer Stiegenhäuser so eng sind. Oder wenn ein junges Pärchen händchenhaltend auf Fahrrädern über das Kopfsteinpflaster poltert, dass die Ikea-Pakete auf den Gepäcksträgern nur so wackeln.
Mein eigenes Rad hielt fast bis zum Ende durch. Am Tag der Abreise war ich für einen letzten Kaffee die acht Kilometer ins Stadtzentrum geradelt. Auf dem Rückweg blockierten die Pedale, dann brach der Kotflügel ab, schließlich fiel der ganze durchgerostete Rahmen auseinander. Ich musste die Reste neben dem (zweispurigen!) Radweg zurücklassen. Nur das Schloss nahm ich mit – eine Aura des Geheimnisvollen verströmt es für mich bis heute.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Dublin: Als Irland noch kein keltischer Tiger war
Wie man in einem Jahr lernt, im Regen zu radeln, illegale Pubs zu erkennen und deutsch-französische Friktionen zu schlichten – während man Luther und irische Rebellen studiert.
Die allererste irische Überlebenslektion erhielt ich von einem Busfahrer. Ich war gerade auf dem Dubliner Flughafen gelandet, mit einem riesigen Koffer und imposanten Schirm stieg ich in den Bus. Der freundliche Mann zeigte auf den Schirm, schüttelte den Kopf: „This is not England, love.“ Er hatte recht: Als ich etwas später ehrfürchtig im Innenhof des majestätischen Trinity College stand, verbog der Wind meinen Schirm. Ich wurde pitschnass.
So begann im Oktober 1993 mein irisches Abenteuer: Ich hatte gemeinsam mit vier anderen Geschichtsstudenten aus Freiburg (Deutschland) ein Erasmus-Stipendium für zwei Semester in Dublin erhalten. Vor der Abreise wusste ich wenig über die Grüne Insel. Die Iren stellte ich mir als großartige Erzähler und Sänger vor, ein bisschen wie im Film „The Commitments“.
Irland war 1993 noch kein keltischer Tiger, sondern eines der ärmsten Länder Europas. Im britischen Norden tobte der Bürgerkrieg, wenige Tage nach meiner Ankunft richtete eine IRA-Bombe in einem Belfaster Fischgeschäft ein Blutbad an. Darüber wurde viel geredet, in der Cafeteria von Trinity, dem ehemaligen College für die Sprösslinge der verhassten britischen Oberschicht. Die irischen Stundenten hatten genug von all den Morden. Sie blickten in die Zukunft, wünschten sich ein modernes Irland, auch ohne den schwierigen Norden. Als bei einer Party ein Student verschwörerisch Geld für den „Befreiungskampf“ sammelte, schickte ihn meine Freundin Kathy wütend weg.
Hitzige Diskussionsabende
Über Politik diskutierten wir viel in unserer WG am Rande Dublins. Ich teilte das Häuschen mit Plüschteppichboden mit der angehenden Ingenieurin Birgitta aus Stockholm, Politologin in spe Barbara aus Stuttgart und zwei Straßburger Geschichtsstudenten, Alain und Olivier. Olivier misstraute dem frisch wiedervereinten Deutschland, Barbaras Argumente überzeugten ihn nicht. Auch unsere Nachbarn, eine fröhliche irische Familie, kamen gern vorbei, sie verteidigten das irische Scheidungsverbot. An diesen hitzigen Diskussionsabenden lernten wir Irish Whiskey zu schätzen.
In den ersten Wochen war das Heimweh freilich groß, allabendlich kämpften wir ums einzige Telefon. Aber bald wurde aus uns eine innige WG-Familie mit Kochritualen und Insiderwitzen. Wir liebten es etwa, die Mitbewohner auf nationale Klischees festzunageln. Das war nicht einfach, nur wenige Vorurteile bestätigten sich wirklich: Birgitta lebte sportlich und gesund, konnte aber keinen Salat anrichten. Barbara errichtete ein gefürchtetes Putzregime und kannte keine Gnade bei den Rechnungen. Alain und Olivier hatten innerhalb weniger Wochen eine ganze Reihe komplizierter Liebesaffären am Hals. Und ich kochte den einzigen ordentlichen Kaffee im Haus.
Arme Priester und Rebellinnen
An der Uni beschäftigte ich mich mit dem Osteraufstand von 1916. Uns Freiburgern wurde zudem eine aufregende Sonderaufgabe zugeteilt: Unter der Obhut einer deutschen Professorin editierten wir ein unveröffentlichtes Martin-Luther-Pamphlet. Diese vielleicht etwas bunte Schwerpunktmischung aus irischem Nationalismus und Reformationsgeist eröffnete interessante Blickwinkel auf Europas Geschichte. Wie man als brotloser Historiker in Irland zu Geld kommt, zeigte mir hingegen Mitstudent Brian: Er recherchierte die Stammbäume reicher Amerikaner, die auf der Suche nach irischen Wurzeln waren. Brian erzählte wunderschöne Liebesgeschichten von armen Priestern und Rebellinnen, mit Happy End in der neuen Welt.
An den Wochenenden erforschten wir die Insel, reisten in den Westen oder den Norden. Dublin wurde uns schnell vertraut: Selbstbewusst radelten wir im Regen zur Uni, quetschten uns geschickt an den Doppeldeckerbussen vorbei. Wir kannten die illegalen Pubs, in denen auch Polizisten nach offizieller Sperrstunde ihre Pints tranken. Unser Mischmasch-Erasmus-Englisch hatte inzwischen einen irischen Tonfall.
Die Abreise fiel uns schwer. Das Erasmus-Familiengefühl hat aber all die Jahre überlebt, Dublin bleibt ein Stück Zuhause.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Spanien: Freunde aus der ganzen Welt - und strenge Prüfungen
Die Universitätsstadt Salamanca zieht Jahr für Jahr unzählige Studenten aus der ganzen Welt an. Das macht das Leben dort aufregend und international. Ausnahmen bei der Leistungsbeurteilung braucht sich aber kein Gast zu erwarten.
Ich gestehe, ich war am Anfang wohl etwas naiv. Aber ich kannte ja die Geschichten. Wer auf Erasmus geht, der macht ein ganzes Jahr lang Party. Man lernt Menschen aus der ganzen Welt kennen, man muss nie zur Uni, und wenn, dann nur, um seine sozialen Kontakte zu verbessern. Und irgendwann zwischen Tapas und Rioja hat man die Sprache perfektioniert. Quasi feiernd. Ohne, dass man selbst nur einen Funken dazu beigetragen hätte. Dass bei meiner Bewerbung für die Universidad de Salamanca in Spanien auf gute Spanischkenntnisse geachtet wurde, hielt ich für eine Alibiaktion der Universitäten. Die mussten ja ihr Gesicht wahren. Ich hätte mich nicht mehr täuschen können.
Salamanca habe ich gewählt, weil die sandfarbene Universitätsstadt für ihre vielen Studenten bekannt ist. Mein Herz an Spanien habe ich schon mit 17 verloren. Einfach so. Es folgten wochenlange Urlaube, ein halbes Jahr Praktikum. Ich freute mich riesig, meine spanische Verwandlung ganz vollziehen zu können. Nur nicht so: Gleich in der ersten Stunde an der Uni erklärte uns der Fotografieprofessor (ich studierte Kommunikation), wie die Endprüfung ablaufen würde: Ein Multiple-Choice-Test – für jede Antwort gab es 30 Sekunden Zeit. Eine falsche Antwort brachte Minuspunkte. Wir mussten also Wörter wie Blende, Verschlusszeit, Objektiv, Stativ auf Spanisch wissen. Von Verschlusszeit hatte ich davor nicht einmal auf Deutsch gehört.
Ich war eine der wenigen, die mit einem mexikanischen Akzent aus Spanien heimgekehrt ist.
Eva Winroither
„Ähm, was ist, wenn ich ein Wort im Wörterbuch nachschlagen muss?“, fragte ich daher zögernd. „O. k., dann bekommst du 45 Sekunden pro Frage“, antwortete der Professor. Und damit war sein letztes Wort gesprochen. Und so ging es das ganze Jahr über: Wir (ein Kollege aus Mexiko und zwei Studentinnen aus Portugal) schrieben Seminararbeiten und Radiohörspiele, wir drehten Filme, wir lernten Statistikprogramme und hielten Vorträge. Alles in einer Sprache, in der mein Wortschatz vorher nur für Alltagsgespräche gereicht hatte – und trotzdem war es großartig.
Erstens habe ich nie wieder eine Sprache so sehr verinnerlicht, und zweitens habe ich bis heute keine Angst, auf Spanisch zu arbeiten. Wenn jemand ein Interview auf Spanisch führen will (was im Chronik-Ressort sicher selten vorkommt), dann kann ich das. Auch wenn mein R nicht mehr so rollt, wie um vier Uhr in der Früh auf einer Party. Denn der Rest meiner Vorstellungen hat sich dann doch bewahrheitet. Ich habe Menschen aus Portugal, Italien, Belgien, Holland, Irland, den USA kennengelernt – und wirklich viele Mexikaner. Wir haben nächtelang durchgefeiert, Schnitzel und Tortilla gekocht, Taschentücher verteilt, wenn Beziehungen zerbrachen. Wir haben diskutiert, ob es ethisch in Ordnung ist, eine Muchacha (Dienstmädchen) zu haben, und haben vor den Prüfungen wirklich Tag und Nacht gelernt. Wegen meiner Freunde hat sich auch mein Spanisch verbessert. Ich war aber auch eine der wenigen, die mit einem mexikanischen Akzent aus Spanien heimgekehrt ist.
Einheimische unter sich
Denn mit den Einheimischen hatten wir zwar an der Uni Kontakt, richtige Freundschaften ergaben sich aber nicht. Ich kann es den Spaniern nicht verübeln. Jedes Jahr kommen Tausende Austauschstudenten nach Salamanca. Jedes Jahr reisen sie nach einem Jahr wieder ab. Irgendwann hat man einfach genug. Bis heute habe ich den Kontakt zu meinen Freundinnen in Dublin, Lissabon und Paris gehalten. Die Fotografieprüfung habe ich knapp mit einem Vierer bestanden. Und obwohl es mich wieder nach Spanien gezogen hat, bin ich nie wieder nach Salamanca zurückgekehrt. Meine Erinnerung an diese Zeit, die will ich nicht verändern.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Finnland: Book Exams, E-Mails, Reports - und dann Party im Atombunker
Tampere genießt in Skandinavien als Universitätszentrum für Wirtschaft, Informatik und Politik hohes Ansehen. Manche dieser "international relations" und Freundschaften halten ein Leben lang.
Vorweg: Die genetische Option machte die finale Entschlussfindung leicht, rückte klassische Vorurteile bezüglich Dunkelheit, Eiseskälte, Sprache, Melancholie und alkohollastiger Kultur schnell beiseite. Ein beratendes Gespräch mit Ingfrid Schütz-Müller, der 1996 für Erasmus-Programme zuständigen Professorenlegende des Wiener Politikinstituts, genügte. Er erwärmte sich zwar eher für Polynesien, liebte die UNO und New York, dem Anliegen aber, für das Wintersemester 1997 International Relations in Finnland zu studieren, konnte er durchaus etwas abgewinnen.
Sprachkenntnis, Noten und ein bereits sehr weit vorangetriebenes Studium öffneten alle Türen. Freilich nebst der Wahrscheinlichkeit, dass Tampere keinesfalls derart heillos überlaufen wie London, Paris oder andere Weltmetropolen ist – der Platz war gewiss. Auch die Korrespondenz mit der Wiener Stipendienstelle war erstaunlich schnell und professionell erledigt, das Abenteuer mit knapp 25.000 Schilling „dotiert“. Vier Wochenstunden wurden als Minimum bzw. Leistungsnachweis eingefordert.
Am 2. Jänner 1997 ging es los, in Finnlands drittgrößter Stadt im Südwesten des Landes mit 225.000 Einwohnern war von der Tampereen yliopisto, also Tamperes Universität, alles perfekt vorbereitet: Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Vorstadtplattenbausiedlung zu Hervanta, in der alle Erasmus-Studenten wohnten und eine in dieser Form nie erlebte Gemeinschaft bildeten. E-Mail-Account (uta.fi), Ausweis – und Tiina, eine Tutorin, der die Esperanto-Aussprache bzw. der Oulu-Akzent ihres Schützlings anfangs nicht sonderlich imponierte, der Wiener Schmäh aber durchaus gefiel.
Modern und professionell
Studieren in Finnland ist eine empfehlenswerte Erfahrung. In der Heimat der Allzeitbesten in der Pisa-Studie kann man ja nichts falsch machen. Es gibt 20 Universitäten im Land, damals galt der Numerus clausus, das Leben hatte seinen Preis. Doch 1997 gab es dort bereits Computer, die in Wien nur auf Prospekten zu finden waren, ganze Säle waren damit gefüllt. Bibliotheken waren geöffnet, alle Werke stets verfügbar. Seminare liefen zumeist auf Englisch, Übungen auf Finnisch, Anmeldungen liefen ausnahmslos per E-Mail. Dass man bei einer Vorlesung nicht dabei sein konnte, war unmöglich.
Dem „vaihto-oppilas“, also dem Austauschstudenten, waren „reports“ auf Englisch, dank Professor Burkhard Auffermann sogar auf Deutsch, erlaubt. „Book exams“, wie man sie auf US-Colleges pflegt, garantierten monatlich wertvolle Credits/Wochenstunden. Vorlesungen des Russland-Experten Jukka Paastela blieben dazu unvergessliche Lehren. Einsatz, Engagement und Geschick stimmten, binnen weniger Monate waren mehr als 20 Wochenstunden erlangt.
Wer viel arbeitet, soll noch mehr feiern – und das können Finnlands Studenten perfekt.
Marku Datler
Wer viel arbeitet, soll noch mehr feiern – und das können Finnlands Studenten, die dann in Partyoveralls in den jeweiligen Dekanatsfarben ausrücken, perfekt. Ob auf Fähren, die sonst zwischen Helsinki und Stockholm (Stichwort: „Goom“) pendeln, in Saunameetings oder mit 3000Gästen in einem Atombunker hinter dicken Stahltüren – und es war immer ein Erlebnis.
Ebenso die selbst organisierten Ausflüge der kompletten Erasmus-Gruppe, die durch das Baltikum, Russland oder Schweden führten: Es war eine die Welt und Augen öffnende, vollkommen unbekümmerte Zeit, in der ein junger Mann mühelos gelernt hat, Wäsche zu waschen, einkaufen zu gehen, kapitalistische Werte zu schätzen und Freundschaften („Wolf!“) so zu pflegen, dass sie bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
Favoriten
Österreich ist bei Studenten nicht die erste Wahl - aber bei Eltern beliebt
7000 Studierende aus ganz Europa sind derzeit in Österreich. Damit liegt Österreich im Beliebtheitsranking im Mittelfeld. Die meisten Austauschstudenten wollen nach Spanien.
Heimische Studierende lassen Österreich gern hinter sich. Insgesamt sind derzeit 7000 Studierende mit Erasmus im Ausland. Fast genauso viele Studierende kommen aber auch gern hierher. Damit zählt Österreich zu den wenigen Ländern, in denen sich Outgoings (jene Studierende, die das Land verlassen) und Incomings (jene Studierende, die nach Österreich kommen) die Waage halten, wie Stefan Zotti, der Geschäftsführer der Österreichischen Austauschdienst-Gesellschaft (OeAD), berichtet.
Das Beliebtheitsranking der Erasmus-Länder führt Spanien an. 42.537 Studierende pilgerten im Studienjahr 2014/15 (aktuellere Zahlen gibt es nicht) dort hin (siehe Grafik). Dabei dürften wohl auch das Wetter und die Strände eine Rolle spielen. Mit Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien zählen – wenig überraschend – bevölkerungsreiche Länder zu den beliebteren. In den meisten dieser Länder ist das Verhältnis zwischen Outgoing- und Incoming-Studierenden nicht ausgewogen. Nach Großbritannien wollen fast doppelt so viele Studierende, wie Briten weggehen.
„Touristisch nicht uninteressant“
Österreich nimmt im Beliebtheitsranking Platz 15 von 33 Staaten ein. „Wenn man mit Erasmus-Studenten spricht, dann bemerkt man, dass Österreich einen guten Ruf hat“, sagt Zotti. Dennoch sei Österreich für viele nicht die erste Wahl gewesen. „Wobei das mehr anekdotisches als statistisches Wissen ist.“ Davon hat der OeAD-Geschäftsführer noch mehr. Aus Gesprächen wisse er, dass es oftmals die Eltern der Studierenden sind, die für einen Erasmus-Aufenthalt in Österreich plädieren. Immerhin sei Österreich sicher und habe ein gutes Sozialsystem. Eltern sehen ihre Kinder hier in guten Händen.
Doch auch für die Studierenden selbst gebe es gute Gründe, in Österreich zu studieren. Es sei „touristisch nicht uninteressant“. Die Uni-Landschaft sei akademisch sehr breit aufgestellt. Es gebe neben den Volluniversitäten auch sehr gute Kunstuniversitäten sowie Technische Universitäten. Auch Fachhochschulen und Pädagogische Hochschulen seien bei Erasmus-Studenten beliebt.
Spanien ist das beliebteste Erasmus-Land.Presse Grafik
Die meistfrequentierte österreichische Hochschule ist unter Erasmus-Studenten aber die Uni Wien. Sie kann als größte Uni das Landes natürlich auch die meisten Austauschstudenten aufnehmen. Dahinter folgen die Technische Uni (TU) Wien, die Wirtschaftsuniversität Wien, die Uni Graz sowie die Uni Salzburg. „Natürlich gibt es die meisten Erasmus-Studenten an den großen Unis. Aber wir beobachten auch so etwas wie Mundpropaganda“, sagt Zotti. Studierende würden nach ihrer Rückkehr in die Heimat oft Werbung für Österreich bzw. für gewisse Universitäten machen. Das mache sich in der Erasmus-Studentenzahl bemerkbar. „Wir hatten in Graz etwa lang einen verhältnismäßig großen Anteil an spanischen Studierenden, den wir uns nicht wirklich erklären konnten“, so der OeAD-Geschäftsführer.
Österreich bei Deutschen beliebt
Studierende würden sich bei der Wahl des Ziellandes oft auch an Empfehlungen ihrer Professoren orientieren. Insofern funktioniere der Austausch mit jenen Hochschulen, mit denen es ohnehin engere Beziehungen gebe, besonders gut. Diese würden von den Professoren nämlich gern empfohlen, sagt Zotti.
Die meisten Austauschstudenten, die sich für Österreich entscheiden, kommen übrigens aus Deutschland. Auch bei Spaniern, Franzosen, Italienern und Tschechen ist Österreich besonders beliebt. Zu den fünf Lieblingsländern der österreichischen Erasmus-Studenten zählen neben Deutschland, Spanien und Frankreich Großbritannien und Schweden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2017)
"Das Erasmus-Programm hat voll gewirkt"
Der Brexit wird für Austauschprogramme zur Herausforderung, warnt der Historiker Philipp Ther.
Die Presse: Herr Professor, Sie haben in Regensburg, München und Georgetown studiert. Erasmus kam da für Sie wohl nicht infrage.
Philipp Ther: Nein. Ich bekam ein Fulbright-Stipendium zugesprochen, und Georgetown ist eine sehr gute Universität. Unabhängig davon ist Erasmus eine wesentliche Errungenschaft der Europäischen Union und hat wesentlich zur Integration Europas beigetragen.
Liest man den Ratsbeschluss vom 15. Juni 1987, mit dem das Erasmus-Programm gegründet wurde, fällt auf: Es geht vorrangig um die „Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaft auf dem Weltmarkt“ und das „Ausschöpfen des gesamten geistigen Potenzials der Hochschulen“. Das Kennenlernen anderer Mitgliedstaaten ist bloß ein Nachsatz. War das ein Fehler?
Wie auch immer die damaligen Ziele formuliert gewesen sein mögen: Wesentlicher Bestandteil von Erasmus war und ist, dass die Studierenden andere europäische Länder kennenlernen, ihre Sprachkenntnisse vertiefen. In diesem Sinn hat das Programm voll gewirkt. Man darf nicht vergessen, dass es auch ein Programm für die Mobilität von Dozenten gibt. Das habe ich genutzt, um an die Central European University in Budapest zu gehen. Dieser Austausch trägt wesentlich zum Verständnis für andere Wissenschaftskulturen und zur Verbesserung der Sprachkenntnisse bei.
Erasmus ist eine Erfolgsgeschichte – aber nur für eine schmale, privilegierte Schicht von jungen Menschen, die studieren können. Sehen Sie eine Gefahr, dass sich somit ein Elitenprojekt selbst verstärkt?
Es liegt sicher eine gewisse Gefahr darin, dass Erasmus vor allem eine bestimmte Klientel bedient. Aber es gibt auch Programme für junge Leute in Berufsausbildung. Die sind leider weniger bekannt. Wichtig ist auch der Austausch der Schulen, nur kann das nicht allein die EU stemmen. Dieser Schüleraustausch liegt auch im Interesse der Mitgliedstaaten.
Man kann nur hoffen, dass die EU nach dem Brexit budgetär in der Lage ist, solche Programme auszustatten.
Philipp Thier
Sie sprachen die Central European University in Budapest an. Die wird von der nationalkonservativen ungarischen Regierung in ihrer Existenz bedroht. Woher kommt dieser antiintellektuelle Antrieb in Ländern wie Ungarn und Polen?
Man sollte weniger von einem Antrieb in den jeweiligen Ländern als den konkret handelnden Personen reden. In Ungarn hat Ministerpräsident Viktor Orbán eine persönliche Fehde mit George Soros, der die Universität mit einem großen Stiftungsvermögen ausgestattet hat. Alle Investoren werden es sich genau anschauen, wie man mit einem letztlich mittelständischen Betrieb, der mit ausländischem Kapital gegründet wurde und enorm floriert, zu den besten Universitäten des gesamten Raumes zählt, umgesprungen wird. Diese Art von Anti-Kosmopolitismus, bei der immer auch eine Spur von Antisemitismus mitschwingt, ist ein schlechtes Zeichen für die Zukunft Europas, aber vor allem Ungarns.
Im Erasmus-Beschluss von 1987 findet sich auch ein schüchterner Verweis darauf, den „Begriff eines Europas der Bürger zu festigen“. Ist die Union diesem Ziel drei Jahrzehnte später näher gekommen?
Das ist ein schwieriges Unterfangen. Generell kann man sagen, dass sich dieses Europa nicht nur von oben, sondern auch von unten bildet, vor allem durch Arbeitsmigration. Die wird derzeit stark attackiert, aber letztlich profitieren alle Mitgliedstaaten von ihr. Man kann nur hoffen, dass die Europäische Kommission nach dem EU-Austritt Großbritanniens weiterhin budgetär in der Lage ist, solche Programme entsprechend auszustatten.
Dem europäischen Gründervater Jean Monnet wird fälschlich das Zitat „Wenn ich es noch einmal tun müsste, würde ich mit der Kultur beginnen“ in den Mund gelegt. Wäre das ein Weg, um das Einvernehmen der Völker Europas zu fördern? Oder ist das ein Luxus, den wir uns angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit und Armut in Süd- und Osteuropa nicht leisten können?
Die Förderung von Kultur und Wissenschaft ist ganz wichtig, und ein europäischer Wissenschaftsraum ist förderungswürdig. Aber gegenwärtig scheinen mir die sozialen Gegensätze innerhalb der Länder und zwischen ihnen vordringliche Probleme zu sein. Hier sollte man ansetzen, um zu verhindern, dass Europa noch weiter auseinanderdriftet. Denn Menschen, die unter Not leiden, ihre Arbeit verloren haben, Bürger aus der Mittelschicht, die Angst davor haben abzusteigen, sind eher empfänglich für neonationalistische Politik und Propaganda.
ZUR PERSON
Philipp Ther (*1967) leitet das Institut für Osteuropäische Geschichte an der der Universität Wien. Der Vorarlberger studierte in Regensburg und München, dann in Georgetown und war John F. Kennedy Fellow in Harvard. Sein Buch „Neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ über Ost- und Westeuropa nach 1989 (Suhrkamp, 2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im Herbst erscheint „Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa.“