Mariss Jansons: „Schostakowitsch ist auf Katerinas Seite“

Mariss Jansons, seit 1990 regelmäßiger Gast bei den Festspielen, dirigiert nun erstmals eine Oper in Salzburg.
Mariss Jansons, seit 1990 regelmäßiger Gast bei den Festspielen, dirigiert nun erstmals eine Oper in Salzburg.(c) Salzburger Festspiele/Anne Dokter
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Mariss Jansons dirigiert Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, eine Schicksalsoper – auf der Bühne ebenso wie für ihren Komponisten.

Herr Jansons, haben Sie aus Ihrer Jugend persönliche Erinnerungen an Dmitri Schostakowitsch?
Ich habe ihn natürlich gekannt, bin ihm mehrmals begegnet und wir haben auch ein bisschen gesprochen. Eine Freundschaft kann man es sicher nicht nennen, weil ich damals noch zu jung war, um eine echte menschliche und künstlerische Beziehung zu ihm aufbauen zu können. Aber mein Vater war Assistent von Jewgeni Mrawinski, dem Chefdirigenten der Leningrader Philharmoniker, der sechs von Schostakowitschs Symphonien aus der Taufe gehoben hat, und ich habe viele seiner Aufführungen gehört. Mrawinski hat mir viel von Schostakowitsch erzählt, mein Vater genauso, und ich war auch bei einigen ihrer Gespräche mit ihm dabei. Schostakowitsch war ein verschlossener Mensch. Er hat nie viel gesprochen, und nie hätte er sich jemandem aufgedrängt. Wenn er geredet hat, dann war es immer sehr schnell. Nach dem, was wir heute lesen können, war er in seiner Jugend anders, aber später war er sehr
introvertiert.


Hat das der politische Druck in der UdSSR bewirkt oder zumindest verstärkt?
Ich glaube, ja. Auf der einen Seite gab es große Anerkennung, sowohl in seiner Heimat und dort auch von den Parteigranden als auch in der ganzen Welt. Auf der anderen Seite hat er enorm gelitten, weil er mehrmals offiziell gerügt worden ist und sehr schwierige Zeiten durchleben musste. Freilich hat er auch sowjetisch-patriotische Werke geschrieben, um sich von der Kritik loszukaufen. Doch Gott sei Dank konnte er alles, was er erlebt und gedacht hat, in Musik übersetzen und in ihr verarbeiten. Wäre er ein Schriftsteller gewesen, hätte er sicher noch größere Schwierigkeiten gehabt. Natürlich kann man auch in der Literatur etwas zwischen den Zeilen ausdrücken, aber die abstrakte Kunst der Musik gibt einem da wesentlich mehr Freiheit. Ich denke, sogar Stalin hatte letztlich großen Respekt vor Schostakowitsch. Das hat es ihm ein Stückchen leichter gemacht.


Trotzdem war es gerade der von Stalin initiierte oder gar geschriebene Artikel „Chaos statt Musik“ 1936 in der „Prawda“, mit dem der große Erfolg der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ plötzlich vorbei war und der Schostakowitsch um sein Leben fürchten ließ.
Ja, das war ein enormer Schlag für ihn – noch dazu für einen Menschen, der ohnehin zu Depressionen neigte. Mit der Zweitfassung der Oper, „Katerina Ismailowa“, die er nach Stalins Tod erstellt hat, wollte er der Politik vor allem zeigen, dass er seine sogenannten Fehler von damals eingesehen und korrigiert hat. Aber musikalisch blieb er vom Original überzeugt.


Hat man in Ihrer Jugend über den Skandal von damals gesprochen?
Man hat es gewusst und hinter vorgehaltener Hand darüber geredet, es war ja nicht ungefährlich. Musiker und Intellektuelle waren auf Schostakowitschs Seite, aber was sollte man machen? Das Thema war nicht verboten, aber unerwünscht. Und wer damals in der Sowjetunion gelebt hat, der wusste genau, was unerwünscht bedeutet.


Sie dirigieren in Salzburg natürlich die erste Fassung . . .
Ja, und sogar mehr als das. Im Original hat Schostakowitsch zahlreiche Kraftausdrücke komponiert, weil er diesen ungeschönten Realismus wollte. Aber schon für die Uraufführung musste vieles davon abgeschwächt werden, wie Korrekturen in den Klavierauszügen von 1932 zeigen. Bei unserer Salzburger Produktion versuche ich, seiner ursprünglichen Vision so nahe wie möglich zu kommen. Ich kontrolliere dazu allerdings nicht nur den Gesangstext, sondern auch Noten, Dynamik und Tempoangaben in allen verfügbaren Quellen, also in Klavierauszügen und Partiturdrucken, denn die autografe Partitur ist leider verschollen.


In „Lady Macbeth von Mzensk“ geht es um das Schicksal einer unterdrückten Frau im zaristischen Russland, die zuerst ihren brutalen Schwiegervater und dann, zusammen mit ihrem Geliebten Sergej, auch ihren schwächlichen Ehemann tötet. Es ist eine Oper voller unerfüllter und erfüllter Liebe, Gewalt, Sozialkritik, Ironie; es gibt sogar parodistische Elemente, etwa in der Sexszene. Was ist für Sie der Schlüssel zu diesem Werk?
Schostakowitschs Sympathie für Katerina, die Lady Macbeth. In der Vorlage, der großartigen Novelle von Nikolai Leskow, ermordet sie auch ihren Neffen; das haben Schostakowitsch und sein Librettist, Alexander Preis, bewusst nicht in die Oper übernommen, dafür aber die Sozialkritik verstärkt. Für den Komponisten ist sie eine – zumindest fast – positive Gestalt, er fühlt mit ihr. Er wollte mit diesem Werk zeigen, wie stark die Liebe ist, aber auch, welche Tragödien sie hervorrufen kann. Er tut das mit einer nicht direkt experimentellen, aber dramatischen, packenden Musik, in der seine Individualität voll ausgeprägt ist.


Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Ausführung?
Heute sollen Opernsänger generell sowohl gut singen als auch gut darstellen können; es gibt aber in der Literatur schon Rollen, bei denen es mehr auf die Stimme ankommt und die Glaubwürdigkeit auf der Bühne nicht ganz so wichtig ist. Bei der „Lady Macbeth“ ist das anders: Hier braucht man Interpreten, die die Figuren in ihrer ganzen Vielschichtigkeit begreiflich machen können. Die guten wie die schlechten Seiten, Liebe, Hass, Humor, Ironie, Sarkasmus: Alles muss plastisch werden. Und das gilt nicht nur für die großen Partien! Die Oper erfordert ein großes Ensemble, bei dem auch die kleinen Rollen ganz charakteristisch besetzt sein müssen, selbst wenn sie nur einen Satz zu singen haben sollten. Man muss auch bei ihnen die spezielle Atmosphäre fühlen, die gesellschaftliche Situation. Ich glaube, wir haben dafür eine wunderbare Besetzung gefunden.


In Salzburg inszeniert Andreas Kriegenburg. Was ist ganz allgemein für Sie bei Opernregie wichtig?
Dass das umgesetzt wird, was der Komponist – im Prinzip – wollte. Ich bin nicht gegen zeitliche oder örtliche Verlegungen, solange sie einen Sinn ergeben und der Grundaussage des Werks helfen. Man kann aber nicht anfangen, in der Ecke eines Bildes von Raffael oder Michelangelo etwas Eigenes darüberzumalen, damit das Bild näher an die Moderne rückt. Jede Änderung erfordert größte Intuition und Geschmack, damit man nicht über die Stränge schlägt. Zum Faszinierenden an „Lady Macbeth von Mzensk“ und ihrem russischen Realismus gehört aber, dass so eine Geschichte immer und überall passieren kann: Das Szenario ist mühelos auch in der Gegenwart vorstellbar. Vielleicht nimmt es im Detail andere Formen an – aber die Gefühle, die Schostakowitsch bei seiner Deutung dieser Geschehnisse gehabt und ins Werk gesetzt hat, sind dieselben. Katerina, einsam, eingesperrt, von einer furchtbaren Familie unterdrückt, bricht mit Gewalt aus ihrem Käfig aus, weil sie Sergej liebt. Und am Ende, im Straflager, wird auch er ihr untreu . . . Wenn Katerina ihre Ariosi singt, verlangt Schostakowitsch immer: „mit viel Herz“. Er ist auf ihrer Seite.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2017)

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