Bis dato ließ sich das Zusammenwachsen der EU gut mit ökonomischen Zwängen begründen. Bei der Verteidigungspolitik geht das nicht mehr.
Dass der Weg von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zur EU verschlungen war und über viele Umwege geführt hat, gehört zu den Gründungsmythen des heutigen Europas. Das Zusammenwachsen des kriegsgeschundenen Kontinents zu einer echten Union war keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis eines jahrzehntelangen Ausbaus des Binnenmarkts – denn Errungenschaften wie Reise- oder Niederlassungsfreiheit sind nicht nur der politischen Vision der Gründerväter der EU geschuldet, sondern vor allem der geduldigen Präzisionsarbeit am gemeinsamen Markt unter der Ägide der Luxemburger Höchstrichter, die das Ziel eines möglichst freien Verkehrs von Waren, Kapital und Menschen dazu nutzten, den politischen Integrationsprozess voranzutreiben.
Angesichts dieser Entstehungsgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass selbst bei einem immanent politischen Thema wie der Landesverteidigung in Brüssel zunächst einmal in ökonomischen Kategorien gedacht wird. Mit der Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit angesichts neuer Gefahren an den Außengrenzen der Union und Rissen im Inneren des Nordatlantikpakts konfrontiert, setzt die EU-Kommission auf die Bündelung von Investitionen in militärische Hardware und ein kleines Zentrum zur Planung gemeinsamer Einsätze, das aufgrund britischer Befindlichkeiten aber nicht Hauptquartier genannt werden kann. Bei der gestrigen Präsentation der Kommissionspläne für einen gemeinsamen Fonds für Rüstungsausgaben durfte auch der obligatorische Verweis auf die 37 verschiedenen Typen von gepanzerten Truppentransportern, die sich die EU-Mitglieder leisten, während die USA mit lediglich neun derartigen Fahrzeugtypen auskommen, nicht fehlen.
Eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten bei der Entwicklung und Anschaffung von Waffensystemen wäre zweifellos keine schlechte Sache. Dass es bis dato nicht dazu gekommen ist, liegt allerdings nicht an fehlender Vorstellungskraft in den europäischen Hauptstädten, sondern an wirtschaftlichen und politischen Sachzwängen. Erstens ist Hightech-Kriegsgerät, ähnlich wie es Autos sind, ein Exportschlager – und in Brüssel käme wohl niemand auf die Idee, eine Fusion zwischen Renault und Volkswagen aus Gründen der ökonomischen Effizienz für wünschenswert zu erachten. Und zweitens hat die Zurückhaltung bei militärischer Kooperation auch mit den leidvollen Erfahrungen der vergangenen Jahrhunderte zu tun. Trotz der Friedensstifterin EU gibt es immer noch tief sitzende nationale Vorbehalte gegen die Aufgabe der Verteidigung eigener Grenzen durch eigene Bürger.
Dieser Quantensprung im Integrationsprozess, der für eine echte gemeinsame Verteidigungspolitik notwendig ist, lässt sich nicht mehr mit rein wirtschaftlichen Argumenten begründen – hier ist die Politik gefragt. Die Staats- und Regierungschefs der EU müssen erstens die Frage beantworten, welchen Zweck eine derartige Verteidigungsgemeinschaft haben soll: Geht es vordergründig um die territoriale Verteidigung, um die Durchsetzung europäischer Interessen im Ausland, oder um Friedensstiftung? Die zweite Frage lautet: Wer sind die eigentlichen Widersacher der EU? Die Gotteskrieger im Nahen Osten und ihre Sponsoren – oder doch eher das revanchistische Russland, das Konflikte in den Hinterhöfen der Union anheizt? Abhängig davon, in welcher EU-Hauptstadt diese Frage gestellt wird, fallen die Antworten unterschiedlich aus – was das Ausmaß der Herausforderung verdeutlicht. Und zu guter Letzt müssten auch die Interessen jener EU-Mitglieder berücksichtigt werden, die sich zur Neutralität verpflichtet haben.
Nichtsdestotrotz stehen die Sterne für eine gemeinsame Verteidigungspolitik momentan gut. Ein irrlichtender Donald Trump im Weißen Haus und der bevorstehende EU-Austritt Großbritanniens lassen die übrigen 27 Mitgliedstaaten automatisch zusammenrücken. Die EU-Kommission kann mit ihren marktkonformen Vorschlägen den Nachdenkprozess anregen. Sie wird ihn aber nicht ersetzen können.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2017)