Grünen-Chef Özdemir: "Das Türkische ist keine In-Kultur"

(c) EPA (Olivier Hoslet)
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Seit einem Jahr ist Cem Özdemir Chef der Grünen Deutschlands. Mit der "Presse am Sonntag" spricht er über Integration, Bildung und seine Elternzeit: "So modern, wie wir immer tun, sind wir in Mitteleuropa nicht".

Sie wurden vor Kurzem von einer Zeitung als der „ideale Einwanderer“ bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Cem Özdemir: Ideal kann ich nicht beurteilen, aber beim Einwanderer muss ich widersprechen: Meine Einwanderung fand über den Kreißsaal statt, ich weiß nur, dass die ersten Worte, die ich hörte, nicht Türkisch, sondern Schwäbisch waren. Der Begriff des Einwanderers trifft eigentlich auf die wenigsten Leute in Deutschland zu. Die Absicht der Generation meiner Eltern war es ja nicht einzuwandern, sondern vorübergehend hier zu arbeiten. Das erklärt auch, warum Staaten wie Deutschland weniger Erfolge vorweisen können als die klassischen Einwanderungsländer wie die USA, weil weder die „Einwanderer“ noch die Aufnahmeländer die richtigen Weichenstellungen vorgenommen haben.


Wie stehen Sie zu den Äußerungen von Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin – über die Türken in Deutschland, die immer mehr „Kopftuchmädchen produzieren“ und „nur zu Obst- und Gemüsehandel taugen“?

Es geht nicht, dass man ganze Bevölkerungsgruppen als Vertreter einer Ethnie adressiert und diffamiert. Ich dachte, dass die Stammeskultur vor der Neuzeit beendet wurde und wir seit gut 200 Jahren auf der Grundlage der Aufklärung leben. Ich bin der Bürger Cem Özdemir, der Richtiges und Falsches tut, aber ich bin nicht Vertreter des Islam, der Türkei, auch nicht der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe. Bemerkenswerterweise ist das Kollektiv-Adressieren von Bevölkerungsgruppen erstaunlich populär in unserer Gesellschaft.

Die Integrationsdebatte läuft also Ihrer Ansicht nach in die falsche Richtung?

Vielleicht sollten wir uns viel weniger mit der Frage des „Woher kommst du“ beschäftigen als mit der Frage „Was verbindet uns?“. Ich bin überzeugter Republikaner, ich glaube, dass wir auf der Basis unseres Grundgesetzes einen guten Leitfaden für das Zusammenleben haben. Umso mehr wundere ich mich, dass es bei einem Teil der politischen Rechten eine Suche gibt, ob man nicht mit Begriffen wie deutsche Leitkultur etc. hantieren muss. Wenn man mal auf den Zahn fühlt, was damit gemeint ist, kommen Dinge wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, die deutsche Amtssprache etc. – alles Dinge, die entweder selbstverständlich sein sollten oder die man auf das Grundgesetz zurückführen kann.


Dennoch läuft in der Praxis nicht alles reibungslos. Wo sehen Sie die Defizite?

Natürlich gibt es riesige Probleme, wenn die Zahl der Migranten an den Gymnasien und Hochschulen nicht ihren Bevölkerungsanteil widerspiegelt. Aber: Ist die Zahl denn bei deutschen Arbeiterkindern besser? Nein. Also scheint es offensichtlich mehr ein soziales und schichtspezifisches Problem zu sein als ein ethnisches. Die Tatsache, dass immer noch das Elternhaus den Lebensweg vorbestimmt, ist ein vormoderner Zustand, den wir dringend auf dem Schrottplatz der Geschichte umweltschonend entsorgen müssen. Übrigens haben auch italienischstämmige Kinder in besonderer Weise Probleme im deutschen Schulsystem, aber darüber redet niemand dank Pasta, Pizza und Toscana. Das Italienische ist positiv besetzt, das Türkische ist halt keine „In-Kultur“.


Sie verabschieden sich demnächst in die Elternzeit. Sehen Sie sich als Role Model?

Es ist eine gewisse Ironie, dass der einzige Parteivorsitzende mit türkischem Hintergrund der erste Parteivorsitzende in Deutschland ist, der Elternzeit nimmt. Manche tun so, als ob das bedeutet, „auf der faulen Haut zu liegen“. Das sagt implizit aus, dass Frauen, die sich um ihre Kinder kümmern, offenbar einer fröhlichen Freizeitbeschäftigung nachgehen. Solche Vorstellungen verraten viel über ein Gesellschaftsbild. So modern, wie wir immer tun, sind wir in Mitteleuropa nicht. Ich finde es nicht schlecht, dass ich austrage, was viele Männer im Alltag mit ihren Arbeitgebern austragen müssen. Sicher gehen besonders wenige türkischstämmige Männer in Elternzeit, in diesem Teil der deutschen Gesellschaft hat es noch eine stärkere Signalwirkung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2009)

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