Flüchtlingsaufteilung: Brüssel verschärft Ton in Asylfrage

Ein algerischer Migrant, untergebracht in einem Bahnwaggon in Thessaloniki. 160.000 Personen wie er sind EU-weit umzusiedeln.
Ein algerischer Migrant, untergebracht in einem Bahnwaggon in Thessaloniki. 160.000 Personen wie er sind EU-weit umzusiedeln. (c) REUTERS (ALEXANDROS AVRAMIDIS)
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Die Kommission eröffnet Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Polen, Ungarn und Tschechien, um die unionsweite Verteilung von Flüchtlingen voranzubringen.

Brüssel/Wien. Lange hat es sich angekündigt, nun wird es damit Ernst: Die Europäische Kommission ist in der Frage der Umsiedlung von Asylwerbern in Griechenland und Italien mit ihrer Geduld gegenüber den Regierungen von Polen, Ungarn und Tschechien am Ende und ergreift rechtliche Schritte. Morgen, Mittwoch, wird die Brüsseler Behörde beschließen, Vertragsverletzungsverfahren gegen die Regierungen der drei Staaten zu eröffnen.

„Entscheidungen über Vertragsverletzungen werden im Paket beschlossen, und Sie wissen, dass das nächste Paket am Mittwoch beschlossen werden soll“, sagte Kommissionssprecher Alexander Winterstein am Montag bei der täglichen Pressekonferenz der Kommission.

Ein Dementi hört sich anders an, und in der Tat liegt die Eröffnung eines Rechtsverfahrens gegen die drei Staaten der Visegrád-Gruppe spätestens seit dem „Spiegel“-Interview von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in der Luft. „Wir werden uns nächste Woche mit der Frage beschäftigen müssen, ob wir deshalb Vertragsverletzungsverfahren einleiten oder nicht. Die Entscheidung ist noch nicht getroffen, aber ich sage: Ich bin dafür“, sagte Juncker. Es gehe ihm darum, „deutlich zu machen, dass getroffene Entscheidungen geltendes Recht sind, auch wenn man dagegen gestimmt hat. Hier geht es um europäische Solidarität, die keine Einbahnstraße sein darf. Da muss sich der Verkehr in beide Richtungen bewegen.“

Ungarische Totalverweigerung

Die Weigerung von Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen, den Beschluss zur Aufteilung von Flüchtlingen umzusetzen, hat die Handlungsfähigkeit der Union infrage gestellt. Juncker hatte das Verhalten der Visegrád-Länder bereits mehrfach kritisiert und sie dafür verantwortlich gemacht, dass die EU derzeit „in keinem guten Zustand“ sei.

In zwei Ratsbeschlüssen vom September 2015 hatten sich die Mitgliedstaaten auf eine Umverteilung von 160.000 Asylwerbern geeinigt, die in Italien und Griechenland gestrandet sind und unter zum Teil katastrophalen Verhältnissen hausen. Die Visegrád-Staaten hatten nicht nur gegen diese per Mehrheitsbeschluss entschiedene Umverteilung votiert, sie weigerten sich danach auch, den Beschluss umzusetzen. Ungarn und die Slowakei klagten sogar beim Europäischen Gerichtshof. Ungarn müsste nach dem Beschluss 1294 Flüchtlinge aufnehmen, die Slowakei 802. Bis heute hat Ungarn keinen einzigen Flüchtling aus den südeuropäischen EU-Ländern übernommen, die Slowakei lediglich 16. Polen hat sich ebenso wie Ungarn gänzlich verweigert, Tschechien hat zwölf übernommen. Erst vergangene Woche beschloss das tschechische Parlament, bis zum Auslaufen des Programms im September keine weiteren Personen aufzunehmen.

Das Fiasko der Umverteilung

Auch Österreich wurde zuletzt in Brüssel kritisiert. Es müsste 1900 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland übernehmen, hat nun zumindest Plätze für 50 afghanische Jugendliche angeboten. Diese sind allerdings noch immer in Italien. Aus Brüsseler Diplomatenkreisen heißt es, die Umsiedlung scheitere momentan daran, dass die italienischen Behörden zu lange für die Sicherheitsüberprüfung der 50 Jugendlichen benötigten (dabei geht es um den Abgleich von Fingerabdrücken in Datenbanken und ähnliches).

Generell droht der Plan zur Umsiedlung der 160.000 Asylwerber zum Fiasko zu werden. Nicht einmal 21.000 von ihnen sind bisher umgesiedelt. worden. Und selbst Befürworter dieser unionsweiten Aufteilung wie der Europaabgeordnete Josef Weidenholzer von der SPÖ geben zu bedenken, dass die Zahlen vermutlich nicht mehr stimmen. „Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich noch in Griechenland und Italien sind“, sagte er im Mai am Rande des Parlamentsplenums in Straßburg.

Die Kommission ist jedenfalls in einer unmöglichen Situation: Tut sie nichts, bleibt die Missachtung europäischer Beschlüsse ungeahndet. Mit der Eröffnung der Vertragsverletzungsverfahren jedoch liefert sie den nationalkonservativen Regierungen in Warschau und Budapest neuen Anlass, sich als Opfer zu inszenieren.

AUF EINEN BLICK

Europas Justiz- und Innenministerbeschlossen im September 2015, dass 160.000 Flüchtlinge in Italien und Griechenland in die übrigen Mitgliedstaaten umzusiedeln seien. Dieser rechtlich bindende Beschluss des Rates wird allerdings von Ungarn, Polen und Tschechien ignoriert. In Summe sind bisher nur rund 21.000 dieser Asylwerber auf andere EU-Staaten verteilt worden. Nun eröffnet die Kommission rechtliche Schritte gegen die drei osteuropäischen Regierungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2017)

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