Abschied aus dem Inferno per SMS

Das Gerippe des Grenfell Towers, der im Londoner Stadtteil North Kensington in der Nacht auf Mittwoch lichterloh brannte.
Das Gerippe des Grenfell Towers, der im Londoner Stadtteil North Kensington in der Nacht auf Mittwoch lichterloh brannte.(c) APA/AFP/TOLGA AKMEN (TOLGA AKMEN)
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Hochhausbrand in London. Noch ist unklar, wie viele Todesopfer das Feuer im Grenfell Tower in der britischen Hauptstadt forderte. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß.

London/Wien. Christos Fairbairne befand sich im 15. Stock des Grenfell Towers in London in seiner Wohnung und sah fern, als jemand in der Nacht zum Mittwoch kurz vor ein Uhr heftig an seine Tür klopfte. Erst dann bemerkte er, dass Rauch durch die Ritzen der Eingangstür in die Wohnung kam. Daraufhin versuchte er, in nasse Kleidung gewickelt durchs Treppenhaus ins Freie zu gelangen. Drei Mal startete er los, doch der Rauch war zu stark. „Aber dann habe ich realisiert, dass ich sterben werde, wenn ich länger in der Wohnung bleibe“, erzählte er der BBC über seine Flucht aus dem brennenden Hochhaus. Er schaffte es einige Stockwerke durch den dichten Rauch hinunter, dann traf er auf Feuerwehrleute, wurde bewusstlos. Er gehört zu jenen, die das Inferno im Grenfell Tower überlebt haben.

Nach dem verheerenden Brand des 24-stöckigen Sozialbaus im Londoner Stadtteil North Kensington geht die Suche nach Vermissten, nach Toten und nach Überlebenden weiter: Bisher hat die Polizei den Tod von mindestens 30 Menschen bestätigt. Sie fürchtet, dass es weit mehr Todesfälle – sogar im dreistelligen Bereich – geben könnte. 400 bis 600 Menschen wohnten im Grenfell Tower. Wie viele sich dort zum Zeitpunkt des Brandes befanden, ist unklar. 24 Menschen wurden am Freitag noch in Krankenhäusern der britischen Hauptstadt behandelt. Der Zustand von zwölf Patienten sei derzeit kritisch, teilte die Gesundheitsbehörde mit. Und die Identität einiger Opfer könnte wohl nie geklärt werden, hieß es seitens der Polizei.

Mann fängt Vierjährige auf

Immer mehr tragische Schicksale der Bewohner des Grenfell Towers wurden am Freitag bekannt. Sawsan Choucair etwa sucht nach sechs Familienmitgliedern, die im 22. Stock des Gebäudes wohnten. Vermutlich sind ihre Mutter, Schwester, Schwager, Nichten und Neffen unter den Toten. Sie selbst war in der Unglücksnacht bei einer Freundin gewesen. Oder Gloria: Die junge Italienerin, die mit ihrem Freund im 23. Stock wohnte. Sie rief in ihren letzten Minuten ihre Mutter in der Nähe von Venedig an, um sich zu verabschieden. Auch andere Angehörige und Freunde erhielten aus dem Grenfell Tower Anrufe oder SMS mit den Worten „Goodbye“ oder „I love you“.

Auf der Suche nach der Brandursache können bisher weder Brandstiftung noch ein technischer Defekt ausgeschlossen werden. Die Zeitung „Daily Mail“ berichtete, dass der Brand in der Wohnung eines Taxifahrers im vierten Stock ausgebrochen sei. Scheinbar geriet ein Kühlschrank in Brand. Eine offizielle Stellungnahme gibt es dazu noch nicht. Premierministerin Theresa May, die am Freitag bei einer Trauerkundgebung unter starkem Polizeischutz erstmals Opfer traf, kündigte eine Untersuchung an, auch, um aufzuklären, ob der Brandschutz mangelhaft war. Alle Bewohner des Hochhauses sollten bis zum Wochenende Ersatzunterkünfte erhalten. Bisher sind sie in Turnhallen oder Hotels untergebracht. Einem dieser Hilfszentren stattete Queen Elizabeth mit ihrem Enkel, Prinz William, am Freitag einen Besuch ab. Starkoch Jamie Oliver lud Überlebende in sein Restaurant in der Nähe ein.

Eine Stadt voller Emotionen: Der ganze Ärger und die Verzweiflung der Betroffenen richtete sich am Freitag gegen die Behörden. Dutzende wütende Demonstranten stürmten ein Londoner Bezirksrathaus. „Wir wollen Gerechtigkeit!“, „Schämt Euch!“, „Mörder!“, riefen sie. Im Eingangsbereich kam es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften. Bei der Sanierung des 1974 gebauten Hochhauses könnte gespart worden sein. Vermutlich hat das Dämmaterial, das sich unter den Fassadenplatten befand, das Ausbreiten des Feuers beschleunigt. Die Untersuchung soll Klarheit bringen. (zoe)

Siehe auch: „So sicher sind Österreichs Hochhäuser“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2017)

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