A4-Schlepperprozess: "Kühllaster zu stoppen, wäre Todesurteil gewesen"

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Der mutmaßliche Schlepperboss, der 71 Flüchtlinge in einen Lkw pferchte, weist vor Gericht jede Verantwortung von sich. Der Afghane sei zu gierig geworden, belastet ihn sein Komplize.

Der Prozess um das A4-Flüchtlingsdrama im ungarischen Kecskemet offenbarte am Donnerstag die Auseinandersetzungen zwischen dem mutmaßlichen Bandenboss Lahoo S. und seinem Stellvertreter, einem 30-jährigen Bulgaren. Eigentlich hätte der Gerichtstag mit den Einvernahmen der beiden Hauptangeklagten fortgesetzt werden sollen. Die beiden weigerten sich jedoch auszusagen, ehe nicht ihre mitangeklagten Komplizen befragt worden sind. So wurden die bisherigen Einvernahmen verlesen. Insgesamt stehen zehn Männer vor Gericht, ein weiterer ist noch auf der Flucht.

Der mutmaßliche Drahtzieher will mit den Schlepperfahrten gar nichts zu tun haben. "Ich lebe in Ungarn und beschäftige mich mit Autohandel", sagte der 30-jährige Afghane den Ermittlern. Er würde Leuten Geld geben, die für ihn in Österreich und Deutschland gebrauchte Fahrzeuge kaufen, die er in Bulgarien und in seiner Heimat verkaufe. Konfrontiert mit den Abhörprotokollen, in denen er seine Komplizen angewiesen haben soll, die Lkw-Tür nicht zu öffnen, obwohl die Flüchtlinge darin verzweifelt schrien, verweigerte er die Aussage.

Blick in den Gerichtssaal
Blick in den Gerichtssaal APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK

Die im Zuge der Ermittlungen durchgeführten Einvernahmen seines mutmaßlichen Stellvertreters belasteten den Afghanen allerdings schwer. Der Bulgare berichtete, wie er mit dem 30-Jährigen zunächst gemeinsame Autogeschäfte getätigt hatte, bis ihn der Afghane im Juni 2015 fragte, ob er Schlepperfahrer aufstellen könnte. Täglich wären dann die angeheuerten bulgarischen Fahrer von Morahalom an der serbisch-ungarischen Grenze mit den Geschleppten nach Westeuropa gefahren. Alle zwei bis drei Tage wurden die Lenker ausgetauscht.

Kaputte Lkw mit Flüchtlingen zurückgelassen

Die Schlepperfahrzeuge wurden mithilfe eines 52-jährigen Komplizen, eines bulgarisch-libanesischen Staatsbürgers, angekauft. Zunächst hätte der Bulgare als Käufer eingetragen werden sollen. Da er jedoch in Bulgarien gerichtlich gesucht wurde, trat seine Freundin offiziell als Käuferin auf. Die Autos wurden so lange eingesetzt wie nötig. Wenn die Fahrzeuge unterwegs kaputt wurden, ließ man sie einfach mit den Flüchtlingen zurück, die meisten in Österreich. Jede Tour wurde von einem sogenannten Vorläuferwagen begleitet, dessen Lenker nach der Polizei Ausschau hielt. Viele Schlepperfahrer wurden aber auch von der Polizei erwischt.

Zunächst wurden Klein-Lkw dafür angeschafft, später Lkw, die 30 bis 35 Personen transportieren konnten. Am Ende wurden bis zu 100 Flüchtlinge auf die Ladeflächen gepfercht. Im August 2015 endete eine solche Fahrt an der A4 tödlich. Der 30-jährige Afghane "wurde zu gierig, deshalb sitzen wir hier", sagte der mitangeklagte Bulgare in der Einvernahme.

Als in der Nacht auf den 26. August 2015 die 71 Flüchtlinge nach Westeuropa gebracht werden sollten, half der 30-jährige Zweitangeklagte beim Einsteigen. Danach verbrachte er die Nacht mit seiner Freundin in Kecskemet, bis ihn der Fahrer des Begleitfahrzeugs anrief und von den Problemen berichtete. Er informierte den afghanischen Komplizen. Der Bandenboss riet, den Flüchtlingen Wasser zu geben. Aus Angst vor der Polizei fuhren der Lkw-Lenker und der Begleitfahrer einfach weiter, ohne die Ladetür zu öffnen. Alle 71 Flüchtlinge erstickten.

Bulgare warnte Boss vor Erstickungsgefahr

Der Bulgare wies vor der Todes-Fahrt darauf hin, dass der Laderaum des Lkw keine Luftlöcher habe und nicht einmal Platz für 50 Personen sei, wie am Nachmittag aus dem Protokoll verlesen wurde. Der Afghane herrschte seinen Stellvertreter an, er solle ihm das Geschäft nicht kaputt machen. Er verstehe mehr davon, schließlich mache er das schon seit 15 Jahren.

Der Zweitangeklagte meinte daraufhin: "Was hätte ich machen können? Wenn ich den Kühllaster gestoppt hätte, dann hätte ich mein Todesurteil unterschrieben." Und der Afghane wäre um eine Einnahme von 100.000 Euro gekommen, meinte er.

Der im August 2015 an der Ostautobahn abgestellte Lkw des Grauens
Der im August 2015 an der Ostautobahn abgestellte Lkw des GrauensAPA/ROLAND SCHLAGER

Daraufhin wurde der Beschuldigte bei der Vernehmung gefragt, ob der Afghane verboten habe, die Frachtraumtür zu öffnen. "Ja", meinte der Bulgare. Die Ermittler wollten auch wissen, ob der mutmaßliche Bandenboss gesagt habe, die Menschen in dem Frachtraum könnten ruhig sterben. "Das hat er nicht ernst gemeint", meinte der Bulgare, er habe das eher in seiner Wut gesagt, "und in einem Dialekt, den ich nicht richtig verstanden habe".

Vom tragischen Ende der Schlepperfahrt erfuhr der Zweitangeklagte aus dem österreichischen Fernsehen. Die Bande soll laut Anklage im Rahmen eines größeren Netzwerks mit Kleintransportern mehr als 1200 Menschen illegal nach Westeuropa gebracht haben. Dabei kassierte allein der Bandenchef, der Afghane L., mehr als 300.000 Euro.

(apa)

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