Leitartikel

Die Pflegefinanzierung ist kein geeignetes Wahlkampfthema

(c) APA (BARBARA GINDL)
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Der Pflegeregress ist ungerecht und gehört umgehend abgeschafft. Aber nicht als Vorwahlzuckerl, sondern seriös finanziert durch eine Pflegeversicherung.

Der Pflegeregress, wie er in Österreich praktiziert wird, ist in hohem Grad ungerecht und sendet ein ausgesprochen kontraproduktives gesellschaftliches Signal aus. Ungerecht deshalb, weil es vom Wohnort innerhalb Österreichs abhängt, ob im Falle der Pflegebedürftigkeit die Allgemeinheit einspringt oder ob auf das Vermögen des „Pfleglings“ und dessen Angehörigen zugegriffen wird. Das hat damit zu tun, dass das Gesundheitswesen dort angesiedelt ist, wo es definitiv nicht hingehört. Nämlich bei den Ländern.

Und kontraproduktiv, weil es signalisiert: Wenn du nach dem biblischen Motto „Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der Herr ernährt sie doch“ lebst oder dein Geld mit beiden Händen beim Fenster hinauswirfst, werden wir dich durchtragen. Wenn du dich anstrengst und es beispielsweise zu einem Häuschen oder einem kleinen Notgroschen bringst, dann werden wir dich zur Kasse bitten. Das ist nicht das Motivationsmodell, auf dessen Basis mitteleuropäische Gesellschaften funktionieren.

Es ist also gut, dass sich jetzt eine Art Allparteienkoalition zu dessen Abschaffung gefunden hat. Vor allem aber, dass die Regierungskoalition diese verunglückte Konstruktion auf ihre To-do-Liste genommen hat. Man muss allerdings dringend davor warnen, diese Liste zu schnell abzuarbeiten. Vorwahlzeiten, das wissen wir spätestens seit der knapp vor den jüngsten Nationalratswahlen beschlossenen Ausgabenorgie, sind nämlich Zeiten „fokussierter Unintelligenz“, wie das der Wiener Bürgermeister einmal ausgedrückt hat. Da überlagert der Wunsch, Wählerköder auszulegen, jede wirtschaftliche Vernunft.

Das muss nicht sein. Wenn tatsächlich alle für die nächste Regierung seriös infrage kommenden Parteien den Pflegeregress abschaffen wollen, dann ist dafür im November und Dezember auch noch Zeit. Dann hat man die Muße, ohne populistisches Schielen auf noch ein paar verfügbare Wählerstimmen eine vernünftige Finanzierung auf die Beine zu stellen.

Das kann nicht so schwierig sein, denn wir reden hier vergleichsweise über Mickey-Mouse-Beträge. Nach offiziellen Angaben beträgt die Finanzierungslücke bei einer Abschaffung des Pflegeregresses 200 Millionen Euro. Das ist, um eine Relation herzustellen, nicht einmal ein Zehntel jener Summe, die der Finanzminister jetzt jährlich nur deshalb „aufstellen“ muss, weil der Regierung 2015 und 2016 die Kontrolle über die Staatsgrenzen entglitten war.


An der Finanzierung kann eine Abschaffung des Pflegeregresses also definitiv nicht scheitern. Solche Summen müssten allein aus einer umfassenderen Sozialversicherungsreform generierbar sein.

Derzeit liegen den Plänen der Regierungsparteien aber eben noch keine seriösen Finanzierungsmodelle zugrunde. SPÖ-Chef Kern stellt sich eine Erbschaftssteuer vor, die politisch erstens nicht durchsetzbar sein wird, zweitens eine zusätzliche Steuer in einem Hochsteuerland wäre und drittens in dieser Art eine Form von indirektem Pflegeregress für Einfamilienhausbesitzer in Immobilienboomgegenden darstellt. Und die bisher bekannten Pläne seines Mitbewerbers Kurz sind, nun ja, noch ein bisschen nebulos. Dabei ist die Sache ganz einfach: Die Pflege hat eine Versicherungsleistung zu sein und ist über eine Pflegeversicherung zu finanzieren. Die Füllung der aktuellen Finanzierungslücke würde jeden Österreicher ganze 25 Euro im Jahr kosten – oder etwas mehr als zwei Euro im Monat.

Natürlich repräsentiert die Lücke nur einen Teil der gesamten Pflegekosten, und diese Kosten werden demografiebedingt auch noch steigen. Aber selbst wenn es dann drei- oder viermal so teuer wird, wäre die Belastung noch immer niedriger als etwa die durch den Ökostromzuschlag, mit dem die heimischen Haushalte zwangsweise die pragmatisierten Renditen gewitzter Investoren sponsern. Das ist zumutbar.

Die Finanzierung der Pflege ist, wenn sie klug gemacht wird, also machbar. Wahlkampfzeiten sind dafür aus bekannten Gründen aber denkbar ungeeignet.

E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2017)

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