Leitartikel

Italiens Migrantenkrise, Europas gemeinsame Verantwortung

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Was sich 2015 am Balkan zeigte, bestätigt sich nun im Mittelmeer: Europa wird die irreguläre Zuwanderung nur durch vereintes Handeln eindämmen können.

Verschläft die Europäische Kommission nach dem Sommer 2015 nun zum zweiten Mal eine Völkerwanderung? Hört man die zaudernden Erklärungen der Brüsseler Sprecher dazu, wie Italien mit der Bewältigung des Ansturms von Flüchtlingsbooten zu helfen sei, kann man sich in dem Eindruck bestätigt fühlen, dass von Präsident Juncker und dem für Migrationsfragen zuständigen Kommissar Avramopoulos abwärts der gesamte Apparat beide Augen zudrückt und sich hinter Papiertürmen vor der politischen Verantwortung versteckt.

In Wahrheit allerdings kann man der Kommission in der Migrationskrise, die sich im Mittelmeer mit jeder gesunkenen Schaluppe verschärft, von allen Beteiligten den geringsten Vorwurf machen. Seit Jahren leistet sie den Aufforderungen der Staats- und Regierungschefs sowie Innenminister, Lösungsvorschläge vorzulegen, brav Folge. Und seit Jahren werden diese Empfehlungen aus Brüssel in den Hauptstädten ignoriert. Aus Gleichmut? Ignoranz? Der verfehlten Hoffnung, das Problem werde sich schon irgendwie von selbst lösen? Gewiss ist nur: Im Alleingang werden Europas Regierungen den Zuwanderungsstrom über das Mittelmeer nicht eindämmen können. Nur gemeinsam lassen sich die Ursachen für die akute irreguläre Zuwanderung bekämpfen.

Beginnen wir beim Grundsätzlichen. Anders als vor zwei Jahren, als vorrangig Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan über die Türkei nach Europa gekommen sind, handelt es sich heute im Mittelmeer hauptsächlich um Wirtschaftsflüchtlinge aus Westafrika; das haben die Staats- und Regierungschefs vorige Woche ausdrücklich festgehalten.

Das ist eine wesentliche Unterscheidung. Denn der Großteil dieser Menschen hat keinen Anspruch auf Zuflucht in Europa. So trist die wirtschaftlichen Aussichten für junge Senegalesen, Gambier oder Nigerianer auch sein mögen: Ein Asylgrund ist das nicht. Damit stehen Europas Regierungen aber vor einer qualitativ anderen Aufgabe als im Umgang mit echten Kriegsflüchtlingen. Heute geht es, anders als im Sommer 2015, nicht darum, wie man diese Menschen innerhalb der Union verteilt, ihnen materielle Ersthilfe, rasche Rechtsverfahren zur Legalisierung des Aufenthalts und einen Weg zur Integration in ihre neue europäische Heimat gewährt. Die Aufgabe liegt nun darin, sie rasch wieder in ihre Heimatstaaten zurückzuführen und davon abzubringen, einen erneuten irregulären Anlauf auf das vermeintliche Paradies Europa zu starten.

Die Kommission hat schon im September 2015 in ihrem Aktionsplan für die Rückkehr zusammengefasst, was zu diesem Zweck getan werden muss. „Wenn Migranten nicht freiwillig zurückkehren, muss eine zwangsweise Rückführung erfolgen“, heißt es da mit dem Verweis, dass die afrikanischen Staaten nur rund 30 Prozent ihrer irregulär nach Europa gekommenen Bürger zurücknehmen: weniger als der globale Durchschnitt von 40 Prozent, was „bereits unzureichend ist“. Damit verstoßen die Afrikaner gegen Artikel 13 des Cotonou-Abkommens mit der Union. Das ist seit 2002 in Kraft. Europas Innenminister müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie 15 Jahre lang nicht auf dessen Durchsetzung gepocht haben.

Stichwort europäische Zusammenarbeit, nächstes Anschauungsbeispiel: „Derzeit tauschen die Mitgliedstaaten Informationen über Rückkehrentscheidungen oder Einreiseverbote für Migranten nicht systematisch aus“, hielt die Kommission in besagtem Aktionsplan fest. Soll man zudem daran erinnern, dass die Union mit keinem einzigen nordafrikanischen Land ein Rückübernahmeabkommen geschlossen hat? Mit Marokko geht seit dem Jahr 2000 nichts weiter, mit Algerien hat der Rat seit dem Jahr 2002 ein Verhandlungsmandat – aber die Gespräche haben noch nicht einmal begonnen.

Im Mittelmeer spielen sich Tragödien ab. Sie wären zu verhindern, würden Europas nationale Politiker nicht ständig Brüssel zum Sündenbock eigener Säumigkeit machen, sondern ihre eigenen Schlussfolgerungen, Erklärungen und Programme umsetzen.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2017)

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