Michael Gampe verzerrt Horváth zu sehr ins Krasse. In der Komödie „Zur schönen Aussicht“ begeistern Peter Matić als Baron und David Oberkogler als Direktor.
Im Südbahnhotel am Semmering wird wieder gespielt. Florian Krumpöcks feiner, bunt gemischter Kultursommer macht heuer im verwunschenen Altbau Station, die Festspiele Reichenau zeigten dort wunderbare Aufführungen wie Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“. Horváths Hotel „Zur schönen Aussicht“ aus dem Jahr 1926 ist zwar mehr eine Absteige, aber diese schwarze Komödie, die seit Dienstagabend im Neuen Raum des Reichenauer Theaters zu erleben ist, hätte natürlich ideal in den Speisesaal mit Panoramablick gepasst.
Horváth wird oft, fast allzu oft gespielt. Viel Neues ist den Regisseuren seit Christoph Marthaler und seinen oft herrlich schrägen Tableaus („Kasimir und Karoline“ war bei den Festwochen, „Zur schönen Aussicht“ in Salzburg zu sehen) nicht eingefallen. Es wäre direkt eine Abwechslung, Horváth wieder einmal so zu spielen wie einst in der Josefstadt, mit leisen, traurigen Figuren bzw. Originalen (Guido Wieland als Präparator in „Glaube Liebe Hoffnung“). Die Josefstädter Aufführungen wirkten zuweilen etwas grau, aber sie tönten passend gebrochen, melancholisch wie Alban Berg.
Was Michael Gampe diesmal in Reichenau einfiel, ist einigermaßen dürftig, einige Besucher verließen die Premiere. Die Produktion ist aber durchaus ansehnlich, ein Männerabend, nach der vielleicht stärker die Damen ansprechenden malerischen Belebung von „Lady Chatterley“ und dem wahrhaft virtuosen „Baumeister Solness“. Hier geht es beinhart zu: In der ersten Szene prügelt der Chauffeur den Kellner aus dem Schlaf, der den Rest des ersten Aktes klagend seine Kleider zusammenklaubt. Schnapsflaschen kreisen, die Männer kneifen die Frauen und zerren sie brutal herum, dass man die blauen Flecken förmlich fühlen kann und versucht ist, nach der Polizei zu rufen. Und das Spiel trieft dermaßen vor offensichtlicher Gemeinheit, dass nur noch ein Schild fehlt: „Seht her! Diese Kanaillen!“
Im Hotel „Zur schönen Aussicht“ regiert Ada, Freifrau von Stetten (Therese Affolter). In weißer Perücke und schwarzem Charleston-Kleid krallt sie sich an ihre Jugend und an bezahlte Verehrer. Affolters Burgtheater-Ton ist markerschütternd wie der berühmte Wolter-Schrei (Charlotte Wolter, 1834-1897, die „Orgel“ der gelernten Mezzosopranistin war legendär). Affolter kreischt nur. Schade, dass es ihr nicht vergönnt war, diese tolle Rolle mit mehr Facetten zu füllen. Falls hier eine Marlene-Dietrich-Parodie angedacht war, das ist daneben gegangen.
Der liebe Gott gibt – eine Erbschaft
Peter Matić ist als Adas Zwillingsbruder Emanuel ideal besetzt, wie er seinen schmalen Rücken strafft und das Monokel ins Auge klemmt, das macht ihm keiner nach. Und Matić beherrscht auch die abgrundtiefe Perfidie dieses Adeligen, der seinen Stand missbraucht und auch noch stolz auf seine Schandtaten ist. Das Mädchen Christine (Johanna Prosl) ist die lautere Lichtgestalt in diesem Stück, der liebe Gott hat ihr geholfen, bevor sie ins Wasser gehen wollte: Der liebe Gott ist eine Erbschaft. Um diese balgen sich die Männer, die Christine vorher als Hure beschimpft haben. Die schauspielerischen Mittel des schlaksigen David Oberkogler sind nicht allzu breit gesponnen, aber als Hoteldirektor Strasser hinterlässt er nachhaltigen Eindruck, weil er als einer der wenigen leises Elend hinter der „coolen“ Maske sehen lässt. Nicolaus Hagg erfreut als Max, der Kellner, Thomas Kamper lärmt als Müller, der Vertreter, Philipp Stix tobt als Karl, der Chauffeur, ein „Ex-Knacki“.
Geniale Kostümbildnerin: Erika Navas
Gewitter krachen. Das prachtvolle karmesinrote Rundsofa, das Bühnenbildner und Intendant Peter Loidolt aufgestellt hat, ist zwar ein Blickfang, passt aber nicht in diese schäbige Herberge, in der Horváth mit vielen Sprichwörtern und anderen absichtlich gesetzten Plattitüden, die lakonischer serviert werden könnten, das gewichtige Thema verhandelt, ob Gott sich etwas aus den Menschen macht oder gar nicht da ist.
Gampe, sonst ein Spezialist für tiefenscharfe Kammerspiele, war diesmal zwar nicht von allen guten Geistern verlassen, aber von vielen. Der Premierenreigen der Festspiele Reichenau ist nun zu Ende. Mancher kämpft mit leichten Entzugserscheinungen. Insgesamt: Schön war's wieder. Das geliebte Festival unter smaragdgrünen Almen hat nach einem leichten Abdriften ins Altmodische wieder einen Aufschwung genommen und gleitet meist elegant auf dem wie neu geschliffenen Parkett des psychologischen Theaters, das seit jeher seine Domäne ist. Selbst übertroffen hat sich heuer die geniale Kostümbildnerin Erika Navas, speziell mit edlen Toiletten für die Frauen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2017)