Hamburger Chaostage: Krawalle und Kompromisse zum G20-Gipfel

Vermummte Linksextremisten zündeten in Hamburg aus Protest gegen den G20-Gipfel Autos an und plünderten Märkte. Die Polizei hatte die Situation stundenlang nicht im Griff.
Vermummte Linksextremisten zündeten in Hamburg aus Protest gegen den G20-Gipfel Autos an und plünderten Märkte. Die Polizei hatte die Situation stundenlang nicht im Griff.(c) APA/AFP/CHRISTOF STACHE (CHRISTOF STACHE)
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Beim G20-Gipfel schlugen sich die Staats- und Regierungschefs und vor allem ihre „Sherpas“ die Nächte um die Ohren, um einen Kompromiss zustandezubringen. Die Krawalle der Linksextremisten störten die Inszenierung Angela Merkels.

Rauchsäulen über der Stadt und Tränengasschwaden in den Straßen, brennende Barrikaden und ausgebrannte Autos, geborstene Schaufenster und geplünderte Läden, Wasserwerfer und Hubschrauber, bürgerkriegsähnliche Szenen wie in Beirut oder Belfast: Solche Bilder, wie sie aus Hamburg um die Welt gingen, hatten Angela Merkel und Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) gewiss nicht im Sinn für ihre PR-Kampagne für die sonst so weltoffene Hansestadt anlässlich des G20-Gipfels.

Am Samstag kündete die von Scherben, Pflastersteinen und Trümmern übersäte „Piazza“ vor der Roten Flora im Schanzenviertel, die Verwüstung in der Hochburg der linksalternativen und autonomen Szene in unmittelbarer Nähe des Messeareals, von einer Nacht der Anarchie und den Straßenschlachten, die sich der berüchtigte Schwarze Block mit der Polizei geliefert hatte. Selbst vielen Bewohnern – Lebenskünstlern und Kreativen – war der Schrecken in die Glieder gefahren.

Angst um „Leib und Leben“ der Polizisten habe ihn umgetrieben sagte Hamburgs sozialdemokratischer Innensenator Andy Grote. Der gewaltbereite, harte Kern der Anarchisten und Linksextremisten in ihren schwarzen Krawall-Uniformen, rund 1500 Mann und vereinzelt auch Frauen, hatte sich im obligaten Katz-und-Maus-Spiel zum Teil auf Dächern und in Wohnungen verschanzt, ausgerüstet mit Stahlkugeln, Eisenstangen, Molotowcocktails und Betonplatten. Schließlich stürmten Spezialeinheiten der Polizei mit Maschinenpistolen das Schanzenviertel, um dem "Spuk der Kriminellen" ein Ende zu bereiten. „Wir haben noch nie so ein Ausmaß an Hass und Gewalt erlebt“, sagte Polizeisprecher Timo Zill.

Harmonie im Konzertsaal. Diese Einsicht zeugt von erstaunlicher Naivität angesichts früherer Exzesse der autonomen Szene bei Krawall-Ritualen wie dem 1 Mai. „Wir müssen mit allem rechnen“, erklärte Grote vor den Abschlussdemos des G20-Gipfels zur Befürchtung, die bunten Protestmärsche der Globalisierungsgegner könnten neuerlich in Randale und Gewalt ausarten. Prompt kam es rund um die Rote Flora in der Nacht auf Sonntag neuerlich zur Eskalation, nachdem Trump, Putin & Co. schon abgereist waren.

Scholz und Grote müssen sich trotz des massiven Aufgebots der Exekutive jetzt unbequeme Fragen gefallen lassen, ob die Gastgeber das Bedrohungspotenzial denn nicht krass unterschätzt hatten. Die Forderung ihrer Berliner Parteifreunde, von SPD-Chef Martin Schulz und Außenminister Sigmar Gabriel, erhält jedenfalls neue Aktualität. Sie schlugen vor, die gigantomanischen G20-Gipfel künftig im UN-Hauptquartier in New York abzuhalten. Dies bot dann auch New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio an.

Die Mächtigen der Weltpolitik genossen indessen in der Elbphilharmonie einen Abend abseits der globalen Fragen, der zuweilen enervierenden Verhandlungen und der Anarchie in St. Pauli und Altona. Draußen hatte Greenpeace eine aufblasbare, halb nackte Donald-Trump-Puppe in die Elbe gesetzt. Drinnen war der US-Präsident, bekanntermaßen kein Freund der klassischen Musik, bei Beethovens 9. Sinfonie nach einem ersten, mehr als zweistündigen Meinungsaustausch mit Wladimir Putin eingenickt, ehe ihn die vom Hamburger Staatsopernchor geschmetterte „Ode an die Freude“ aus dem Halbschlaf riss. Als Sitznachbar der argentinischen First Lady war Trump beim Abendessen wieder zu Leben erwacht, während seine Frau Melania im Small-Talk mit Wladimir Putin ihr Russisch aus Schulzeiten in Slowenien auffrischte.

Zuvor hatte Melania kurz das Tête-à-tête zweier neuer Männerfreunde gestört. Doch Trump und Putin waren mit ihrer Tour d'horizon durch die Weltpolitik, die sie in breitbeiniger Macho-Pose führten, noch längst nicht zu Ende. Sowohl die russische wie die amerikanische Seite wertete dies als guten Zeichen. Die Präsidenten schienen Gefallen aneinander gefunden zu haben, sie geizten nicht mit jovialen Gesten und amikalen Worten. Die Chemie sei auf Anhieb spürbar gewesen, urteile US-Außenminister Rex Tillerson. Der Kreml-Chef betonte hinterher den Wert eines persönlichen Gesprächs fernab der Telefon-Diplomatie: „Der TV-Trump unterscheidet sich sehr vom realen Menschen.“

Mit den internen Problemen zwischen Washington und Moskau, etwa dem Vorwurf der Manipulation des US-Wahlkampfs durch russische Geheimdienste, hielten sich die Staatschefs denn auch nicht lange auf. Trump brachte die Frage gleich eingangs aufs Tapet, Putin wiegelte aber prompt ab. Sie konzentrierten sich eher auf die zahlreichen außenpolitischen Konflikte, und in einem Punkt erzielten die USA und Russland immerhin eine Einigung, wie die Außenminister hernach verkündeten. Unter Vermittlung Jordaniens hatten Amerikaner und Russen einen Waffenstillstand im Südwesten Syriens ausgehandelt – ein Mini-Erfolg, mehr nicht, der ein wenig Hoffnung verheißt.

Kleine Fortschritte. Während sich die „Sherpas“, die Chefunterhändler der G20-Staaten, die Nächte um die Ohren schlugen, um um Kompromissformeln und Formulierungen für das Schlussdokument zu ringen, erreichten die Player am Rande des Gipfels kleine Fortschritten bei Themen wie Afrika, Migration, Gesundheit und Frauen – allesamt Anliegen Merkels. Im kleinen Kreis hatte sie zum Arbeitsfrühstück mit Emanuel Macron und Wladimir Putin die Ukraine-Krise erörtert und den Stillstand bei der Umsetzung des Minsker Abkommens beklagt. Schon heute reist Rex Tillerson samt dem neuen US-Sonderbotschafter nach Kiew.

In Hamburg gab es hinter den Kulissen viel zu bereden: In Vier-Augen-Gesprächen kam Putin etwa mit Recep Tayyip Erdoğan zusammen, Trump wiederum forcierte in seiner Unterredung mit Premierministerin Theresa May einen Handelspakt zwischen den USA und Großbritannien. Chinas Xi Jinping, Indiens Narendra Modi und Japans Shinzo Abe konferierten im Viertelstundentakt.

Da steckte Kanadas allseits beliebter Sonnyboy Justin Trudeau, der Popstar unter den Politikern – der nach dem Vorbild seines Vater Pierre – seinen Sohn Hadrian im Schlepptau hatte, seinen Kopf mit Merkel zusammen und war für jeden Spaß zu haben; da charmierte Macron die Gastgeberin, die sich, ungewohnt locker, als Weltenlenkerin in ihrem Element wähnte. Schließlich zollte ihr auch ihr schwierigster Partner, Donald Trump, Lob für ihre Rolle als Moderatorin und Organisatorin. Noch überschwänglicheres Lob hatte der US-Präsident allerdings für seine Tochter Ivanka übrig, die ihn zu dem Gipfel begleitet hatte, um mit der Kanzlerin eine Fraueninitiative zu lancieren. Zeitweise nahm sie den Platz des Vaters in der Verhandlungsrunde ein, sehr zur Verwunderung mancher Teilnehmer angesichts des ungenierten Nepotismus.

Anfangs hatte Trump noch wie ein Fremdkörper unter den Mächtigen gewirkt, die bei der Begrüßung einzeln, wie auf einem Laufsteg, an Merkel vorbeiparadierten. Trumps plumpes Auftreten untermauerte die Sorge vor einer Isolation der USA, wie sie sich im Vorfeld durch seine „America-First“-Politik manifestiert hatte. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigte sich wegen des Streits um Stahlimporte aus China in Kampfstimmung, andere raunten von einem „Handelskrieg“ und Papst Franziskus meldete sich via Interview als Zwischenrufer und Mahner.

Zum Auftakt des Treffens sprach Angela Merkel den Dissens mit den USA an: „Es gibt da nichts drum herumzureden.“ Sie verglich die Globalisierung mit dem Kreuzknoten, dem aus der Seefahrt entlehnten Gipfellogo, dessen verschlungene Taue die starke Bande zwischen den Staaten symbolisieren sollen. Gerissen ist der Knoten in Hamburg nicht, vielleicht ein wenig lose und porös geworden in den traditionellen transatlantischen Beziehungen.

In ihrem Resümee hielt die Kanzlerin den Konflikt mit den USA in der Klimapolitik fest, der auch im Abschlusskommuniqué vermerkt ist – eine explizite Ausnahme. Das Pariser Klimaabkommen sei unumkehrbar, bekräftigte sie. Macron hofft gar auf ein Umdenken Trumps, womöglich bei dessen Stippvisite zum französischen Nationalfeiertag und der Truppenparade in Paris nächste Woche – was wohl eher Wunschdenken bleibt.

Als Erfolg heftet sich Merkel indes auf ihre Fahnen, dass beim Bekenntnis zum Freihandel der offene Eklat ausblieb. Die Klausel über „legitime Verteidigungsinstrumente“ – Zölle und Sanktionen – kittet die Risse nur notdürftig. Während Trump ohne Statement vom Gipfel abrauschte, stattete Merkel den Einsatzkräften demonstrativ einen Besuch ab: „Danke Hamburg.“ Am Sonntag machte sich dann auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Bild von der Lage in der Elb-Metropole.

Die Gastgeberin, die Meisterin des Kompromisses und der kleinen Schritte, könnte derweil einigermaßen zufrieden sein. Wenn nicht die hässlichen Bilder der Hamburger Chaostage wären, die „ihren“ Gipfel in ihrer Geburtsstadt empfindlich gestört haben – und im kollektiven Gedächtnis bleiben werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2017)

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