Einen Tag nach seinem 74. Geburtstag hat Mick Jagger die Songs "England Lost" und "Gotta Get A Grip" veröffentlicht. Zumindest „England Lost“ wird schon aufgrund des Titels als grimmiger Kommentar zur politischen Lage verstanden.
Gerade hat der Rolling-Stones-Fan noch gegrübelt, wie denn Keith Richards' kryptische Aussage über ein etwaiges neues Stones-Album mit eigenem Material (nach „Blue & Lonesome“ mit lauter Coverversionen alter Bluessongs) zu verstehen sei, da bekommt er elektronische Post von Mick Jagger.
Nun ja, vielleicht nicht ganz exklusiv, aber mit einer Botschaft des Sängers: „I'm excited to be able to share some solo music with you! I started writing these two songs a few weeks back and wanted to get them to you right away.“ Aufmerksam! Immerhin sind die zwei Stücke, die nun im Internet zu hören sind, die ersten wirklich neuen Jagger-Solosongs seit seinem vierten Album „Goddess In The Doorway“ (2001). Und „England Lost“ wird schon aufgrund des Titels als grimmiger Kommentar zur politischen Lage verstanden – es wäre Jaggers erster seit dem Stones-Song „Sweet Neo-Con“ (2005). In diesem ging es freilich um die USA, wo damals George W. Bush regierte. Nun geht es um seine eigentliche Heimat, in der er 2003 von Prince Charles zum Ritter geschlagen wurde. „I went to see England, but England's lost“, singt er zu einem zeitlos modernen Breakbeat und unfrisierten Gitarren mit scharfer Stimme.
Im Regen stehen gelassen
Eigentlich, sagt Jagger selbst, gehe es in "England Lost" um ein verlorenes Fußballspiel. Doch seine erste Klage gilt, auch das sehr britisch, dem Wetter. „It wasn't much fun standing in the rain“, singt er: „I got soaked, didn't look home anyway.“ In der zweiten Strophe verliert er zunächst Rauchbares und Getränk („I lost a blunt, I lost the pint“), dann kommt er zwanglos auf Einwanderung zu sprechen: „I'm tired of talking about immigration, you can't get in and you can't get out.“ Schließlich ist er bei seinem alten Lieblingsthema: „Had a girl in Lisbon, a girl in Rome, now I'll have to stay at home.“ Auch diese missliche Situation ist nicht eindeutig kausal auf den Brexit oder die konservative Politik in England zurückzuführen . . .
"What can a poor boy do?"
Dass Jagger, der sich einst gern mit Margret Thatcher traf und erklärte, er sei von ihr begeistert, so schwer politisch einzuordnen ist, liegt an seiner Begabung für Sarkasmus und Selbstironie: Schon in „Street Fighting Man“ (1968), fälschlich als Hymne auf die Revolte verstanden, hat er ja die eigene Attitüde verhöhnt („What can a poor boy do?“), in „Salt Of The Earth“ die Anbiederung der Popintellektuellen an die Arbeiterklasse. 1973, in "Sweet Black Angel", beschrieb er, gar nicht politisch korrekt, die US-Bürgerrechtskämpferin Angela Davies als "pin-up girl". Und 1977, in „Respectable“, erklärte er, jetzt seien die Rolling Stones von der Gesellschaft akzeptiert: „Wir sprechen mit dem Präsidenten über Heroin...“
Zur Wirkung von "England Lost" trägt das Schwarzweißvideo bei: Man sieht den walisischen Schauspieler Luke Evans auf der Flucht durch britische Landschaften, endlich kommt er an die Küste, läuft ins Meer, wird aber gewaltsam zurück ans Land gezogen, wo Kinder ihn mahnen: „Reißen Sie sich zusammen!“ Schließlich pfeift er „Land of Hope and Glory“.
"Chaos, crisis, instability, ISIS"
Der zweite Song, „Gotta Get A Grip“, ist ein wilder Rundumschlag: „The world is upside down“, konstatiert Jagger und zählt auf: „Chaos, crisis, instability, ISIS, lies and scandals, wars and vandals“. Und so weiter. Er habe, singt Jagger, alles dagegen probiert: „Mediation and meditation, LA culture and acupuncture, over-eating and sex in meetings.“ Im Video sieht man Jemima Kirke (bekannt aus der Serie „Girls“) verschwitzt durch diverse Dancefloors taumeln, wie das in den frühen Achtzigerjahren als sexy galt. Entsprechend klingt der Track. Also, popkulturpessimistisch gesagt, immerhin moderner als viele heutige Produktionen, die sich lieber an den späten Achtzigern orientieren . . .
Von beiden Songs sind gleich – auch das eine Errungenschaft der frühen Achtziger – etliche Remixes erschienen, in einem singt Kevin Parker von der Retro-Band Tame Impala, in einem anderen rappt der britische Grime-Musiker Skepta. Er ist 1982 geboren.
Er habe die Geduld für Verhandlungen mit Plattenfirmen nicht gehabt, erklärt Mick Jagger: „Ich wollte nicht auf nächstes Jahr warten, wenn die zwei Tracks vielleicht jede Bedeutung verloren haben.“ Auch kokett sein kann sie noch, die alte Lippe.