Andy Holzer: Eispickel statt Blindenstock

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Wer Andy Holzer in einer Felswand beobachtet, wird kaum Außergewöhnliches bemerken. Doch er ist nicht wie alle anderen: Der Kletterer ist blind.

Der nächste Kletterhaken ist nur noch wenige Zentimeter entfernt. Andy Holzer hält sich mit einer Hand an der Felskante fest, die Finger der anderen tasten suchend über das schroffe Kalkgestein. Zugleich achtet er auf jedes Geräusch, das ihm Aufschluss über seine Umgebung geben könnte: rieselnder Sand oder Wind, der um nahe Ecken pfeift. Beim Klettern ist Holzer auf seinen Tast- und Hörsinn angewiesen – seine Augen helfen ihm nicht. Der 43-Jährige ist von Geburt an blind.

Sein Leben sind die Berge, hier findet sich der Osttiroler auch ohne Augenlicht zurecht. Geschickt und zielstrebig steigt er die Felswand empor. Meter um Meter. Die Route hat er genau im Kopf, in Gedanken ist er sie schon zigmal geklettert. Zu Hause scannt er sich Bücher mit Tourenbeschreibungen ein und lässt sie sich am Computer von einer Sprachsoftware vorlesen. „Oft weiß ich schon, in welche Richtung es weitergeht, noch bevor meine Kletterkollegen nach der Karte greifen“, erzählt Holzer schmunzelnd.

Seine Blindheit hat er nie als Bürde empfunden. Sie hält ihn nicht davon ab, Touren bis zum siebenten Schwierigkeitsgrad zu klettern. Sein Sport ist für ihn nichts weniger als „gelebte Leidenschaft“. Oft hört Holzer den Vorwurf, dass er sich der Gefahr gar nicht bewusst sei, da ihm der Blick in die Tiefe erspart bleibe. „Unsinn“, meint er dann, „die Leute sollen sich bloß nicht einbilden, dass das, was sie sehen, das Absolute ist. Das Gehirn schaltet sich ja nicht aus, nur weil man nichts sieht.“ Mithilfe seiner verbliebenen Sinne baut sich der Kletterer ein dreidimensionales Bild der Wirklichkeit. „Eine Schlucht unter mir nehme ich genauso intensiv wahr.“ Und jenen, die ihm das nicht glauben, rät er: „Macht beim Klettern doch einfach die Augen zu!“

Experte für Nebel. Seine Kletterkollegen profitieren oft von der geschärften Wahrnehmung des Blinden. Die Steuerung der Seilschaft geht dann je nach Sichtverhältnissen wortlos von einem Mann zum anderen über. „Bei Nebel oder Dunkelheit, bei Gefahr durch Lawinen oder zugewehte Gletscherspalten übernehme ich zum Teil die Führung“, sagt Holzer. Seine Wahrnehmung dürfe man aber genauso wenig überbewerten wie das richtige Sehen. „Bei klarer Sicht sage ich meinen Kollegen: Jetzt seid besser ihr wieder dran.“

Schwierig wird es für ihn erst, wenn er aus der Wand aussteigen und auf zwei Beinen über unebenes Gelände gehen muss. Dann macht er Fehltritte, taumelt, hält sich am Rucksack des Vordermanns fest. Beobachter merken erst hier, dass sich ein Blinder unter den Bergsteigern befindet. Gefährlich wird es auch, wenn es einen schmalen Grat zu queren gilt. Holzer muss jeden Schritt vorher abtasten, denn: „Wenn ich einmal danebensteige, bin ich weg.“ Angst, ja, die gibt es, die habe er immer wieder. „Doch solange du Angst hast, kannst du sicher sein, dass dir nichts passiert.“

Aufgewachsen ist Holzer in Amlach, einem 300-Einwohner-Dorf in Osttirol. So wie seine um drei Jahre ältere Schwester kam er mit der schweren Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa zur Welt. Die Blindenschule lehnte er ab und entschied sich für den „harten Weg“: Er besuchte die normale Volks-, Haupt- und Polytechnische Schule und ließ sich zum Heilmasseur ausbilden. Schon als Jugendlicher zog es ihn in die Lienzer Dolomiten. Es dauerte jedoch lange, bis Holzer mit 23 Jahren endlich einen Kletterpartner fand. Bei den Einheimischen stieß er mit seinem Wunsch anfänglich auf Ablehnung: Mit einem Behinderten in die Berge zu gehen, das sei doch verrückt, so der Tenor. Die vielen Zurückweisungen nagten damals an seinem Selbstvertrauen.

Heute spricht Holzer selbstbewusst, so, als wäre ein Blinder am Berg das Natürlichste der Welt. Rund 200 Mal pro Jahr ist er im Gebirge unterwegs. Von seinem Haus in Tristach, in dem er mit Ehefrau Sabine lebt, plant er die nächsten Touren: „Mein Traum ist, im Frühjahr 2010 zum Mount Everest zu starten und im Dezember darauf zum Mount Vinson in die Antarktis.“ Das Ziel dahinter: die Besteigung der höchsten Berge aller sieben Kontinente. Fünf dieser „Seven Summits“ hat Holzer schon geschafft, die zwei genannten fehlen noch. Derzeit sucht er aber noch Partner zur Finanzierung.


Schwächen auf den Tisch. Neben seiner Tätigkeit als Heilmasseur hält Holzer gelegentlich Vorträge. Dort betont er, wie wichtig es ist, zu seinen Schwächen zu stehen: „Ich sage den Leuten: Legt doch eure Schwächen auf den Tisch! Ihr erspart euch die Energie, sie zu vertuschen, und nehmt euren Kritikern den Wind aus den Segeln.“

Er selbst verzichtet auf den Blindenstock, der ihm „unauthentisch“ vorkommt. Holzers Werkzeuge sind Seil, Eispickel und Steigeisen. Ob er vorhat, sich irgendwann zur Ruhe zu setzen? Holzer: „Das ist kein Thema für mich. Mit dem Klettern aufzuhören, das wäre wie Selbstmord.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2009)

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