Der neue Weg des gemäßigten Islamisten

Der türkische Premier Erdogan rückt vom Westen ab. Für EU und USA Zeit für mehr Ehrlichkeit und Realismus.

Es ist ein Treffen zwischen Verbündeten, zwischen Partnern. Doch einige amerikanische Kommentatoren ziehen bereits in Zweifel, ob der Gast aus der Türkei, der heute von US-Präsident Barack Obama in Washington empfangen wird, tatsächlich noch ein Verbündeter ist.

Recep Tayyip Erdogan, Premierminister der Türkei, tat in den vergangenen Monaten auch alles, um die USA vor den Kopf zu stoßen: Er bezeichnete Irans Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad als „Freund“ und schloss einen neuen Vertrag über die gemeinsame Erschließung eines iranischen Gasfeldes ab – just zu dem Zeitpunkt, zu dem Washington zu härteren Sanktionen gegen Teheran drängte.

Er verteidigte den im Westen geächteten sudanesischen Präsidenten Omar Hassan al-Bashir, der vom Internationalen Strafgerichtshof schwerer Verbrechen in Darfur angeklagt ist und verstieg sich in seinem Pro-Bashir-Plädoyer sogar zu der Behauptung, ein Muslim könne gar kein Völkermörder sein – was ihm auch in der Türkei Kopfschütteln einbrachte. Und er ließ keinen Zweifel daran, was er für ein größeres Verbrechen als Darfur hält: den Gaza-Krieg des US-Verbündeten Israel.

Und dann noch die Sache mit Afghanistan. Die Türkei hat derzeit über 1700 Mann am Hindukusch stationiert. Mehr sollen es nicht werden, und in den direkten Kampf gegen die Taliban sollen sie – zum Ärger Washingtons – schon gar nicht eingreifen.

Wann auch immer sich in letzter Zeit eine Kluft zwischen einem sogenannten „westlichen“ Staat wie den USA und einem Land mit muslimischem Background aufgetan hat, hat sich die türkische Regierung klar positioniert: und zwar aufseiten des muslimischen „Bruders“.

Premier Erdogan war auch einer der lautesten Kritiker der Abstimmung über ein Minarettverbot in der Schweiz und geißelte die „zunehmende rassistische und faschistische Haltung“ in Europa. Der Regierungschef mag damit der Empörung vieler Türken und ihrer Sorge um ihre Glaubensbrüder Ausdruck verliehen haben. Doch in einigen türkischen Medien wurde das Minarettverbot – bei aller Schelte für die Schweizer Entscheidung – durchaus auch für Selbstkritik genutzt. Nach dem Motto: Wie würde wohl bei uns eine Abstimmung über Kirchen und Synagogen ausgehen?

Die Positionierung Erdogans entspricht nicht nur den Überzeugungen des konservativen, gemäßigt islamistischen Politikers. Sie ist auch Teil der neuen großen Strategie der türkischen Außenpolitik. „Neo-Osmanentum“ nennen sie die Kritiker; den Wunsch, mit allen Nachbarn gut auszukommen, nennt sie ihr Designer, Außenminister Ahmet Davuto?lu. Der „türkische Kissinger“ beteuert zwar, dass der Beitritt zur EU nach wie vor außenpolitisches Ziel Nummer eins sei. Zugleich entfernt sich der Nato-Staat Türkei in seinen Entscheidungen aber zunehmend von den Positionen der USA und der Europäer und wendet sich immer klarer „dem Osten“ zu.

Die neue Strategie verschlechterte die Beziehungen zu Israel. An anderen Fronten brachte sie aber Entspannung: Ankara normalisierte die Beziehungen zu Syrien und versuchte, sich mit der kurdischen Regionalregierung im Nordirak zu arrangieren. Etwas, was einer klar kemalistisch ausgerichteten Regierung wohl sehr schwergefallen wäre, ebenso wie die Annäherung an Armenien.

Die neue Politik der Türkei speist sich nicht nur aus Ideologie. Es geht um handfeste Interessen, denn die Staaten im Nahen Osten und im Kaukasus sind ein wichtiger Markt für die türkische Wirtschaft.

Und es geht um beinharten politischen Pragmatismus; darum, die eigene Außenpolitik möglichst breit aufzustellen. Denn natürlich hat man in Ankara längst verstanden, dass man in der EU nicht wirklich willkommen ist. Die Staaten der Union gehen in dieser Frage bis heute nicht ehrlich mit der Türkei um. Sie schworen dem Land jahrelang, es in die EU aufzunehmen – als Belohnung dafür, dass es im Kalten Krieg fest auf der Seite des Westens stand. Sie starteten sogar Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, nur um bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchblicken zu lassen, dass dieses Angebot nicht ganz ernst gemeint ist.

In die Beziehungen zwischen EU und Türkei muss deshalb mehr Ehrlichkeit. Und in die Beziehungen zwischen USA und der Türkei muss mehr Realismus. Ankara geht außenpolitisch einen neuen Weg. Und davon können auch Amerikaner und Europäer profitieren. Dann nämlich, wenn sie die Türkei als Vermittler in der Region nutzen. Eine Türkei, die trotz allem ein Partner des Westens bleiben muss.


wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2009)

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