Die Toleranz gegenüber dem Massentourismus hat ihr Ende am überlaufenen Mittelmeer. Daran sind die Gäste selbst schuld. Und vor allem die lokale Politik.
Diesen Sommer wurde eine Schmerzgrenze überschritten. In Barcelona schlitzen Einwohner die Reifen eines Touristenbusses auf. In Venedig ziehen Protestmärsche gegen die Kreuzfahrtdampfer durch die engen Gassen. Auf Capri überlegt man ernsthaft einen Numerus clausus für die Besuchermassen. In Palma de Mallorca tauchen anklagende Graffiti auf den Hauswänden auf. „Tourism kills the city“. Wie konnte es so weit kommen, dass die Menschen in diesen Reisezielen die Hand, die sie füttert, als ihren Feind betrachten?
Die Dosis macht das Gift. Und die war in den vergangenen Jahren zu hoch. Die Gewalt werde vor allem durch „dieses Modell des Massentourismus erzeugt“, sagten die Aktivisten der katalanischen Protestorganisation Arran, nachdem sie die Reifen vor den Augen verschüchterter Touristen zerschlitzt hatten. Nicht der Tourismus per se bringt die Städte um, sollte man den spanischen Sprayern antworten. Es ist die Art des Raubbaus, der mit Sonne, Strand und Meer betrieben wurde. „Dieses Modell des Massentourismus“ wird vom spanischen Regierungschef, Mariona Rajoy, nämlich gelobt. Seine kleine touristische Wirtschaftslokomotive war nicht unmaßgeblich daran beteiligt, dass das von der Krise gebeutelte Land einen neuen Aufschwung vorzeigen kann. Kritische Stimmen wurden angesichts von frischem Geld und Arbeitsplätzen gern überhört. Auf die Proteste, die nun mit brachialen Methoden erfolgen, reagiert Rajoy wenig diplomatisch: Ihm zufolge handelt es sich dabei nur um ein paar Extremisten.
Weder die harten Worte des Regierungschefs noch die radikalen Aktionen der Jugendlichen tun Spanien etwas Gutes. Was Barcelona und andere überlaufene Städte brauchen, ist eine ehrliche Kosten-Nutzen-Analyse. Links steht die Frage: Wie sehr will die Stadt von der steigenden Zahl an Städtereisen, Kreuzfahrten, Airbnb-Gästen und der Angst im arabischen Raum profitieren? Rechts muss die Gegenfrage lauten: Wie weit nimmt sie die steigenden Grundstücks- und Mietpreise, die Gentrifizierung der Altstädte, die Verschmutzung und die nicht immer feinen Manieren der Gäste in Kauf? Nur die Vorteile von links gibt es nicht. So ehrlich müssen die Profiteure des Wirtschaftsbooms sein.
Betrachtet man nur die Fakten, klingt der Fall lösbar. Sobald aufgeschlitzte Reifen, Hass-Graffiti und Demos dazukommen, wird es schwierig. Dass sich die Welttourismusorganisation jüngst einschalten und von den Städten ein nachhaltiges touristisches Wachstum einfordern musste, ist ein Armutszeugnis. Die lokalen Behörden hätten absehen können, dass das Gleichgewicht bei 50.000 Venezianern auf 20 Millionen Besucher, die die Kreuzfahrtschiffe und Busse pro Jahr ausspucken, nachhaltig gestört ist. Oder dass Barcelonas Tausende illegale Airbnb-Wohnungen die Bevölkerung aufbringen werden.
Die Angst, dass sich die Einheimischen gegen ihre Einnahmequelle wenden und Sympathie in Feindseligkeit umschlägt, ist alt. Auch in Österreich. Als Felix Mitterer Anfang der 1990er-Jahre die Hassliebe zwischen deutschen Touristen und ihren Tiroler Gastgebern in der „Piefke-Saga“ porträtierte, waren beide Seiten beleidigt. Der Aufschrei wäre wohl nicht so groß gewesen, hätten sie sich in ihrem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis nicht im Kern wiedererkannt. Es ist Aufgabe von Veranstaltern und Politik, dass aus der Satire kein Ernst wird. In der Tiroler Region Wilder Kaiser ist man daher beispielsweise vorsichtig geworden. Dort, wo die perfekt vermarktete „Bergdoktor“-Serie den Sommertourismus beflügelte, sprach man sich im Voraus gegen Massentourismus aus. Steigende Immobilienpreise und verstopfte Dorfstraßen will hier keiner.
Der Tourismus muss, egal, ob er Geld ins Tiroler Unterland oder nach Barcelona bringt, im sozial verträglichen Rahmen gehalten werden. Das ist Aufgabe von Politik, Hoteliers und Tourismusvereinen. Genauso muss aber der Gast dazu beitragen, dass die Situation nicht eskaliert. Wieso sollte er halb nackt und betrunken am Mittelmeerstrand randalieren, wenn ihm so ein Verhalten zu Hause nie in den Sinn käme? Jedem Touristen muss klar sein: Im Zimmer mit Meerblick ist nicht die grenzenlose Toleranz der Bevölkerung inkludiert.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2017)