Ein britischer Forscher erweitert die Palette der fleischfressenden Pflanzen um 50 Prozent: Nun gehören auch Erdäpfel, Petunien und Bromelien dazu.
Als 1768 die erste Venusfliegenfalle in London präsentiert wurde – in der Natur gibt es sie nur in den USA –, gruselte auch den Gelehrten: Linné sah in der fleischfressenden Pflanze ein „miraculum naturae“, John Bartram, ein Botaniker, blieb volksnäher und nannte das Mirakel „tipitiwitched“, es stand für Vulva. Die Assoziation hielt sich bis in Viktorianische Zeiten, sie nährte Fantasien von „mörderischen Neigungen“ der Natur, Höhepunkt war der „menschenfressende Baum“, den Carl Liche auf Madagaskar in Aktion sah: Er lockt mit Honig und schlägt mit Tentakeln zu, die „mit dämonischer Intelligenz“ das Opfer umschlingen. Liche beschrieb das Phänomen 1881, viele glaubten es ihm.
Einer der größten Pflanzenphysiologen dieser Zeit, Charles Darwin, glaubte es natürlich nicht, aber auch er war fasziniert von der Intelligenz, mit der sich manche Pflanzen zusätzliche Nahrung verschafften. Er studierte vor allem den Sonnentau, unternahm mit ihm Experimente, die er selbst „pervers“ nannte, fütterte ihn mit Fleisch und Chemikalien: Nur Fleisch führte dazu, dass alle Tentakel sich an den gereizten Ort beugten und das gesamte Blatt sich dann zu einem „temporären Magen“ einrollte.
Tote Insekten als Dünger
Darwin hatte viele andere Pflanzen im Verdacht. Mark Chase (Royal Botanic Gardens, Kew), ist dem nun nachgegangen und erhöht die Zahl der fleischfressenden Pflanzen von 650 auf 975. Das ist vor allem einer Lockerung der Definition zu danken: Viele der neuen Fleischfresser sind nicht so aktiv wie etwa der Sonnentau, der Beute aktiv anlockt und verdaut, aber alle halten sich an die Minimaldefinition, dass Beute gemacht und verwertet wird. Das bringt etwa Pflanzen in die Kategorie, die Härchen haben, in denen sich Insekten verfangen. Dazu gehören Petunien und wilde Nachtschattengewächse wie Tabak, Tomaten und Erdäpfel. Die Haare dienen der Verteidigung, aber sie haben den zusätzlichen Effekt, dass darin gefangene Insekten sterben und verrotten, eine wilde Kartoffel sorgt aktiv durch das Ausscheiden von Enzymen dafür. Die Reste fallen hinab, geraten in die Erde und werden von den Wurzeln aufgenommen.
Andere Pflanzen sind klebrig, auch sie fangen Insekten und düngen sich mit den Resten. Eine von ihnen, die südafrikanische Wanzenpflanze, hat sich zur Beschleunigung des Verfahrens mit Wanzen vergesellschaftet. Die bleiben nicht kleben, aber sie fressen die Festgeklebten – und ihre Ausscheidungen nimmt die Pflanze direkt mit den Blättern auf. Wieder andere, Bromelien, arbeiten mit Aquakultur: Sie bieten mit ihren zu Gefäßen zusammengewachsenen Blättern wassergefüllte Biotope, in denen etwa Frösche leben, die Insekten fangen und sie in nahrhafte Fäkalien verwandeln.
„Sie alle sind versteckte Fleischfresser“, interpretiert Chase, zumindest sind sie „Protofleischfresser“: „Wir sind von viel mehr mörderischen Pflanzen umgeben, als wir vermuten.“ Lässt sich so das alte Gruseln beleben? Kaum. Aus unserer kollektiven Fantasie sind sie (fast) verschwunden, es gibt nur einen „kleinen Horrorladen“. (Botanical Journal of the Linnean Society, 161, S.329).
MÖRDERISCHE PFLANZEN
■Fleischfresser im engen Sinn – wie Sonnentau oder Venusfliegenfalle – gehen aktiv an ihr Geschäft: Sie locken Beute an, fangen sie, zersetzen sie mit Enzymen und nehmen die Reste direkt auf. So können sie in nährstoffarmen Habitaten leben.
„Protofleischfresser“ locken nicht, sie sorgen dafür, dass die Beute kleben bleibt. Manche zersetzen sie aktiv, andere nicht, manche nehmen die Reste mit den Blättern auf, andere mit den Wurzeln, es gibt viele Stufen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2009)