Autos und Messer statt Sprengstoff und Schusswaffen. Warum Attentäter ihre Anschläge in Europa mit Gebrauchs- gegenständen verüben.
Die Gegend rund um den Place De Brouckère in der Brüsseler Innenstadt gilt seit jeher als sozialer Hotspot: Die gleichnamige Metrostation ist Treffpunkt von ausgehfreudigen Jugendlichen, am verkehrsberuhigten Boulevard Anspach tummeln sich Obdachlose, Bettler, Dealer und Kleinkriminelle, und als am 22. März 2016 drei Selbstmordattentäter Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und eine U-Bahngarnitur verübt und dabei 32 Menschen mit in den Tod gerissen hatten, wurde die alte Börse ums Eck spontan zur Gedenkstelle umfunktioniert.
Dass in Belgien nach wie vor die zweithöchste Terrorwarnstufe gilt und das Areal von belgischen Soldaten überwacht wird, kommt somit nicht überraschend. Freitagabend, kurz nach 20 Uhr, wurde eine Militärstreife am Boulevard Emile Jacqmain, der zum Place De Brouckère führt, selbst zum Terrorziel: Ein frischgebackener belgischer Staatsbürger somalischer Abstammung, der seit 2004 in dem Königreich lebte, griff die Soldaten von hinten mit einem Messer an und rief dabei „Allahu Akbar!“ (Gott ist groß). Zwei von ihnen wurden verletzt, bevor der Attentäter mit mehreren Schüssen niedergestreckt wurde und wenig später im Krankenhaus verstarb. Nach Angaben der belgischen Ermittler war der Mann nicht in einer Terrordatenbank vermerkt, aber wegen einer unpolitischen Gewalttat amtsbekannt.
Keine eineinhalb Stunden später gab es in London einen ähnlichen Vorfall: Vor dem Buckingham Palace stoppten Polizisten einen 26-jährigen Mann, der sein Auto unerlaubt vor dem Sitz der britischen Königin anhielt und ein Messer mit einer langen Klinge im Fahrzeug hatte. Bei der Festnahme trugen zwei Polizisten Armverletzungen davon. Ob der Festgenommene einen terroristischen Hintergrund hatte, war am Samstag Gegenstand der Ermittlungen.
Barcelona, Stockholm, Berlin
Die beiden Vorfälle passen gut zur jüngsten europaweiten Serie von Anschlägen, die allesamt mit banalen Alltagsgegenständen verübt wurden. Beim Angriff auf den bei Touristen beliebten Boulevard Las Ramblas in Barcelona vor zwei Wochen war die Terrorwaffe ein Auto – ebenso wie beim Attentat in Stockholm im April, dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt vor der Berliner Gedächtniskirche im Dezember 2016 und dem Blutbad in Nizza im Juli 2016, als der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel während der Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag mit einem Lastwagen durch die Besuchermenge pflügte und 86 Menschen tötete. Beim Anschlag auf die London Bridge im vergangenen Juni fuhren die drei Attentäter zunächst Passanten nieder und griffen anschließend die Besucher des nahegelegenen Borough Market mit Messern an.
Die Angriffe sind zwar tödlich, doch sie unterscheiden sich deutlich von den großen Terroranschlägen, die vor Mitte 2016 verübt wurden: Die Attentäter von Brüssel waren Bombenbauer. Das Killerkommando, das im November 2015 in Paris 130 Menschen tötete, benutzte Feuerwaffen – ebenso wie jene islamistischen Terroristen, die im Jänner 2015 die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ angegriffen hatten.
Nahostkonflikt als Vorbild?
Diese Entwicklung spiegelt die Erfahrungen wider, die Israel seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 gemacht hat. Nach dem Zusammenbruch der Nahost-Friedensgespräche und der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen verübten palästinensische Selbstmordattentäter zahlreiche Bombenanschläge auf Lokale, Einkaufscenter und Busse. Je länger die Terrorwelle anhielt, desto lauter wurden in Israel die Rufe nach einer räumlichen Trennung von den Palästinensern im Westjordanland. Der von israelischen Politikern ursprünglich abgelehnte Schutzwall wurde schlussendlich errichtet, und dieser Wall scheint durchaus wirkungsvoll gewesen zu sein. Zwar werden in Israel nach wie vor Anschläge verübt – doch seit einigen Jahren nicht mehr mit Bomben, sondern mit Autos und Messern. Nach Angaben des israelischen Außenministeriums kamen bei Attentaten in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 55 Menschen ums Leben – und zwar vor allem bei Messerangriffen. Das Auto als Waffe wurde bereits von der al-Qaida propagiert. So pries das Terrornetzwerk in einer Ausgabe ihres englischsprachigen Magazins „Inspire“ aus dem Jahr 2010 den Pickup-Truck der Marke Ford als „ultimative Maschine“ zum Niedermähen der „Feinde Allahs“ an.
Attrappen
Dass Terroristen in Europa zu Alltagsgegenständen greifen, dürfte darauf hinweisen, dass die Zahl der Gotteskrieger, die einsatzfähige Bomben aus Haushaltschemikalien herstellen können, nicht so hoch ist wie befürchtet – bzw. dass der Zugang zu Waffen und Sprengstoff deutlich erschwert wurde. Als der Attentäter von Barcelona von den spanischen Sicherheitskräften gestellt wurde, hatte er zwar einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt – doch es war nur eine Attrappe.
("Die Presse", Printausgabe, 27.08.2017)