RAF: "Bis an die Grenzen des Rechtsstaats" und darüber hinaus

Die Bilder von Hanns Martin Schleyer aus der Gefangenschaft erweckten in der deutschen Bevölkerung Mitleid, dennoch entstand kein öffentlicher Druck auf die Regierung, den Forderungen der Entführer nachzugeben. Eine Mehrheit der Bevölkerung sprach sich für Härte gegenüber den Terroristen aus.
Die Bilder von Hanns Martin Schleyer aus der Gefangenschaft erweckten in der deutschen Bevölkerung Mitleid, dennoch entstand kein öffentlicher Druck auf die Regierung, den Forderungen der Entführer nachzugeben. Eine Mehrheit der Bevölkerung sprach sich für Härte gegenüber den Terroristen aus.(c) Police Handout / EPA
  • Drucken

Vor 40 Jahren entführte die Rote Armee Fraktion (RAF) Hanns Martin Schleyer: Damit begann der »Deutsche Herbst«, die entscheidende Konfrontation der Bundesrepublik Deutschland mit dem Terror. Über Wochen herrschte Ausnahmezustand.

Der Hinterhalt ist ebenso heimtückisch wie tödlich: Innerhalb von zwei Minuten fallen in einer Kölner Einbahnstraße 130 Schüsse. Dann sind vier Menschen tot: Drei Polizisten und ein Chauffeur. Die fünf RAF-Terroristen glauben zunächst, niemand habe überlebt und ihre Aktion sei gescheitert. Doch wie durch ein Wunder hat jener Mann, auf den sie es abgesehen haben, keinen Kratzer abbekommen: Hanns Martin Schleyer, 62, „Doppelpräsident“ der großen deutschen Unternehmerverbände und ehemaliger SS-Mann. Für ihn galt eigentlich „Sicherheitsstufe 1“, die höchste Gefährdungsstufe. Nur wenige Wochen zuvor, Anfang August 1977, waren ein Dutzend Polizisten für Schleyers Begleitschutz abgestellt worden. Zu viele Hinweise hatten sich gehäuft, dass er das nächste hochrangige Opfer der RAF sein würde – nach Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Jürgen Ponto, dem Chef der Dresdner Bank, innerhalb von knapp fünf Monaten.

Trotzdem versagte man auf ganzer Linie: Für Schleyers Konvoi standen keine gepanzerten Fahrzeuge zur Verfügung, die Fahrtroute wurde nicht gewechselt und seine Bewacher waren alles andere als geschulte Spezialisten. Hätten sie den Abstand zwischen den Autos nicht so niedrig gehalten, hätte Schleyers Fahrer vielleicht entkommen können. So aber fuhr das Begleitfahrzeug auf, als die Terroristen den Weg mit einem gelben Mercedes abrupt blockierten. Was folgte, war ein Massaker. Gegen die Feuerkraft von zwei Sturmgewehren hatten Polizeihauptmeister Reinhold Brändle (41), Polizeimeister Roland Pieler (20) und Polizeihauptmeister Helmut Ulmer (24) keine Chance. Brändles Leiche allein wies über 50 Einschüsse auf. Der unbewaffnete Fahrer, Heinz Marcisz (41), wurde ebenso ermordet. Man hatte sie alle auf ein Himmelfahrtskommando geschickt. Die RAF-Terroristen schleiften Schleyer anschließend zu einem VW-Bus und verschwanden im Abendverkehr. Damit begann ein 44-tägiger Nervenkrieg, der die Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundfesten erschütterte: der Deutsche Herbst.

Parallelen zu Islamisten

Wie konnte es so weit kommen? Die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre waren eine Zeit des Konflikts – zwischen den Generationen, den politischen Lagern und den Supermächten des Kalten Krieges. In diesem Klima fanden sich in zahlreichen westeuropäischen Ländern, den USA und in Japan kleine radikale Gruppen zusammen. Ihr Ziel war es, die Verhältnisse so zuzuspitzen, dass eine revolutionäre Situation möglich sein würde. Mittel zum Zweck war der „bewaffnete Kampf“ gegen Politiker, Polizei- und Justizbeamte sowie Wirtschaftsführer. Viele Parallelen zu heutigen radikal-islamistischen Terroristen liegen auf der Hand: internationale Netzwerke, Ausbildungslager im Nahen Osten, Medienfixierung und Antisemitismus.

In der BRD verbreitete vor allem die 1970 gegründete RAF Angst und Schrecken. Kaum jemand erinnert sich heute daran, dass ausgerechnet der bekannte Rechtsextremist Horst Mahler eine Schlüsselrolle gespielt hat. Bevor er sich nationalem Gedankengut zuwandte, hatte der damals prononciert linke Anwalt als einer der Ersten an den Aufbau einer Untergrundorganisation gedacht. In Rom rekrutierte Mahler die beiden flüchtigen Kaufhausbrandstifter Andreas Baader und Gudrun Ensslin für sein Projekt. Während Mahler selbst rasch verhaftet wurde, sollten Baader, Ensslin sowie die hinzugekommene Journalistin Ulrike Meinhof synonym mit der RAF werden.

Nach einer Anschlagsserie mit vier Toten und 74 Verletzten befand sich diese RAF-Gründergeneration schon Mitte 1972 hinter Schloss und Riegel. Nun entwickelte die Gruppe eine politische Dimension, die sie vorher nie gehabt hatte. In der „Roten Hilfe“ und in „Folterkomitees“ fanden sich oft ganz junge Leute zusammen, die über die tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeit der Haftbedingungen empört waren. Irgendwann tauchten sie selbst in die Illegalität ab.

Der Tod des RAF-Hungerstreikers Holger Meins (1975) und der bis heute zum Teil angezweifelte Selbstmord von Ulrike Meinhof (1976) schürten Rachegelüste. Eine „zweite RAF-Generation“ trat auf den Plan. Alles war ganz auf die Befreiung der Gründungskader ausgerichtet, die auch hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim die Zügel in der Hand hatten. 1977 spitzten sich die Ereignisse zu, mit über 50 Anschlägen auf Personen und Objekte. Doch die Brutalität des Überfalls auf den Schleyer-Konvoi bedeutete einen Wendepunkt.

Als Kanzler Helmut Schmidt mit dem Kabinett und den Parteivorsitzenden die Forderungen der RAF diskutierte, herrschte Konsens: kein Austausch der elf RAF-Häftlinge gegen Schleyer. Nur zwei Jahre zuvor, Anfang 1975, hatte man den Westberliner Politiker Peter Lorenz gegen fünf Terroristen ausgetauscht. Prompt begingen diese wieder Straftaten. Insbesondere Schmidt war entschlossen, den Fehler nicht zu wiederholen. Alle Anstrengungen konzentrierten sich darauf, das „Volksgefängnis“ zu finden, in dem Schleyer festgehalten wurde.

Im Nachhinein gesehen, wäre nichts leichter als das gewesen: Schon zwei Tage nach der Entführung war das Geiselversteck einem Polizisten als verdächtig aufgefallen. Der Hinweis auf die betreffende Wohnung in einem anonymen Hochhaus im Kölner Umland ging per Fernschreiben Nr. 827 an den Koordinierungsstab im Kölner Polizeipräsidium – und verlor sich dort in der Datenflut. Hätte man die Information in das Computersystem Pios (Personen, Institutionen, Objekte, Sachen) eingespeist, wären fast ein halbes Dutzend Verknüpfungspunkte mit der RAF ausgespuckt worden. Mitte September 1977 verlegte die RAF ihre Geisel nach Den Haag und später nach Brüssel. Zu diesem Zeitpunkt war die Fährte längst kalt.

Wenn Europa heute wieder Terrorismus erlebt, sollte man sich verdeutlichen, welche Verwerfungen die RAF vor vier Jahrzehnten ausgelöst hat: „Bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ sei man gegangen, meinte Schmidt später. Eine Untertreibung. Über Wochen herrschte ein nicht erklärter Ausnahmezustand. Alle wichtigen Entscheidungen wurden im „kleinen“ und „großen Krisenstab“ getroffen. Im Eilverfahren wurde ein eigenes „Kontaktsperregesetz“ beschlossen, mit dem der Zugang der Stammheimer Häftlinge zu ihren Anwälten unterbunden wurde. Auch „exotische Lösungen“ wie die Erschießung von RAF-Gefangenen wurden diskutiert. Den Versuch von Schleyers Familie, den Angehörigen auszulösen, blockte man dagegen ab.

Blutiges Finale

Alles strebte einem blutigen Finale zu. Am 13. Oktober 1977 brachte eine mit der RAF verbündete palästinensische Terrorgruppe eine Lufthansamaschine in ihre Gewalt. Obwohl nun 82 weitere Menschenleben auf dem Spiel standen, blieb der Krisenstab bei der „harten Linie“. Man spielte auf Zeit. In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 1977 gelang es, die Landshut in Mogadischu (Somalia) zu befreien. Opfer unter den Passagieren gab es keine, drei der vier Terroristen wurden erschossen. Der Einsatz der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) gilt bis heute als symbolischer Sieg über den Terror. Nach Einlangen der Nachricht begingen Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Vieles spricht dafür, dass diese Todesnacht quasi unter staatlicher Aufsicht erfolgt ist. Denn ein halbes Jahr zuvor hatte man eine geheime Kommunikationsanlage der Gefangenen angezapft.

Bitterste Konsequenz war der Tod Schleyers: Seine Entführer richteten ihn per Kopfschuss hin und deponierten den Leichnam im französischen Mülhausen. Beim Staatsakt in der Stuttgarter Domkirche am 25. Oktober 1977 bat Bundespräsident Walter Scheel die Familie im „Namen aller deutschen Bürger“ um Vergebung.

Der RAF-Terrorismus sollte noch bis zur formellen Auflösung der Gruppe (1998) weitergehen: Anstelle der „zweiten“ trat eine „dritte Generation“. Noch bis 1991 ereigneten sich tödliche Attentate gegen Manager, Diplomaten und Nato-Einrichtungen. Aber es sollte nie wieder zu einer Machtprobe wie 1977 kommen. Die RAF hatte die „Entscheidungsschlacht“ verloren.

Apropos: Die Bilanz von fast drei Jahrzehnten RAF-Terror: 67 Tote, 230 Verletzte, 250 Millionen Euro Sachschaden, 31 Banküberfälle mit einer Beute von 3,5 Millionen Euro, elf Millionen Blatt Ermittlungsakten und 517 Verurteilungen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Fakten

Der »Deutsche Herbst« 1977.

Die Monate September und Oktober 1977 waren in Deutschland geprägt durch die Anschläge der Terrorgruppe „Rote Armee Fraktion“ (RAF).
Vorangegangen waren die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April und am Dresdner Bankvorstand Jürgen Ponto im Juli 1977.

Am 5. September 1977 wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt und in Gefangenschaft ermordet.
Zum Autor

Dr. Thomas Riegler ist Historiker in Wien. Er veröffentlichte 2010 und 2015 Bücher über den Nahostterrorismus und die Opec-Geiselnahme 1975.

Zum Autor
Dr. Thomas Riegler ist Historiker in Wien. Er veröffentlichte 2010 und 2015 Bücher über den Nahostterrorismus und die Opec-Geiselnahme 1975.

Einwurf

Apropos Landshut

Die entführte Lufthansa-Maschine kehrt nach Deutschland zurück.
„Die Landshut ist eine wichtige Zeugin der deutschen Zeitgeschichte, gerade angesichts des nahenden Jahrestags der Entführung.“ So begründet das Berliner Auswärtige Amt seine Entscheidung, die 1977 von palästinensischen Terroristen entführte Lufthansa-Maschine zurückzukaufen und sie in einem Flugmuseum in Friedrichshafen auszustellen. Jahrelang rostete das legendäre Flugzeug im brasilianischen Fortalezza vor sich hin, es war zuletzt nicht mehr einsetzbar. Seine letzte Heimat wird nach einer teuren Generalsanierung das Dorniermuseum am Bodensee sein, fast auf den Tag genau 40 Jahre nach der Entführung.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.