Leitartikel

Osteuropa zwischen Stolz und Vorurteil

Warum die EuGH-Entscheidung zur Flüchtlingsaufteilung richtig ist und doch das Problem des Zusammenlebens zwischen Ost und West verstärken wird.

So wird sich die Situation nicht verbessern. Ungarn, Slowakei und Polen fühlen sich seit Jahren in ihrem Stolz gekränkt. Sie empfinden sich als EU-Mitglieder zweiter Klasse. Und nun verloren sie auch noch dieses so wichtige Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Ungarn und die Slowakei haben die Klage gegen den Mehrheitsbeschluss der EU-Regierungen zur Aufteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland eingereicht, jetzt haben sie auf ganzer Linie verloren. Mit ihnen im Boot sitzt Polen, das sich dem Verfahren angeschlossen hat.

Sinngemäß hat Winston Churchill einmal gesagt, es sei wichtig, Auseinandersetzungen zu führen, aber ebenso wichtig, danach dem Besiegten die Hand zu reichen. Soll der Graben zwischen Ost und West in der EU nicht breiter werden, ist nun in Brüssel, aber auch in den anderen EU-Hauptstädten Sensibilität angesagt.

In der Sache gibt es keinen Zweifel, dass diese Länder nun verpflichtet sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Der EuGH beruft sich auf eindeutige Vertragsregeln, wonach „gemeinsame Maßnahmen“ ergriffen werden können, wenn Mitgliedstaaten durch einen plötzlichen Zustrom in eine Notlage geraten. Die beiden hauptbetroffenen Länder, Griechenland und Italien, sind das zweifellos.

Es geht sowieso nur um eine geringe Anzahl. Ungarn etwa müsste von den 120.000 Menschen, die umverteilt werden sollen, lediglich 1294 aufnehmen – und bekäme dafür noch finanzielle Unterstützung. Aus einem früheren Beschluss über 40.000, den Budapest nicht eingeklagt hat, müsste es nicht einmal einen einzigen Flüchtling übernehmen. Ob es insgesamt überhaupt so viele werden, ist fraglich, denn die Migrationswelle ebbt ab, und andere Länder, darunter Österreich, bemühen sich bereits um eine Reduzierung.

Die Slowakei dürfte einlenken. Aber Viktor Orbán in Ungarn sowie seine Amtskollegin Beata Szydło in Polen haben sich innenpolitisch so weit aus dem Fenster gelehnt, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Sie haben sich prinzipiell gegen jede Aufnahme ausgesprochen. Sie haben mit den Vorurteilen ihrer Mitbürger so hoch gepokert, dass sie in ihrer Position eingegraben sind. Sie haben die vorhandenen Ängste noch befeuert – Flüchtlinge mit Terroristen gleichgesetzt, Moslems und Islamisten in einen Topf geworfen.

Für all das sollte es kein Verständnis geben, aber für den Stolz dieser Länder schon. Ein wichtiger Teil der EU fühlt sich abgekoppelt. Das hängt zum einen mit der Wohlstandsverteilung zusammen, zum anderen mit einer durchaus vorhandenen Arroganz des Westens. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker etwa hat diese Länder kaum besucht, trifft Angela Merkel aber bei jeder Gelegenheit. Bis auf Donald Tusk als Ratspräsidenten gibt es heute keinen nennenswerten Spitzenposten, der von einem Osteuropäer in der EU bekleidet wird. Wenn sich dann in Lebensmittelpackungen, die in Richtung Osten gelieferten werden, auch noch weniger gefrorener Fisch befindet als in den Verpackungen im Westen, braucht niemand mehr auf Solidaritätsopfer dieser Länder hoffen.

Zu einem Handreichen gehören freilich auch jene, die diese Hand nehmen wollen. Orbán und Szydło sind das nicht. Sie leben innenpolitisch ganz gut mit dem Hass auf den Westen. Es ist zu befürchten, dass sie auch dieses Urteil nicht anerkennen. Sie haben ein grundsätzliches Probleme mit rechtsstaatlichen Kontrollinstrumenten, die ihrem Machtstreben in die Quere kommen.

Doch was wird dann geschehen? Die EU-Kommission wird sich verpflichtet fühlen, so wie bei jedem anderen Mitgliedstaat auch, die gemeinsamen Regeln durchzusetzen. Ungarn und Polen werden zu Strafzahlungen verurteilt. Es droht eine Eskalationsspirale, in der noch mehr Verständnis darüber in Osteuropa auf der Strecke bleiben wird, was eigentlich die EU ausmacht: nämlich ein freiwilliger Zusammenschluss auf Basis gemeinsamen Rechts. Ob Binnenmarkt oder Flüchtlingspolitik, die EU kann nur verlässlich funktionieren, wenn alle die gleichen rechtsstaatlichen Normen anwenden und akzeptieren.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2017)

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