Putin-Kritikerin: „Die Jugend will mehr Freiheit“

Dass sie auch mit Präsident Putin umgeht, kommt bei anderen Menschenrechtlern nicht so gut an. Doch Ljudmila Alexejewa sagt, sie müsse ja den Obrigkeiten die Menschenrechte erklären, nicht den Aktivisten.
Dass sie auch mit Präsident Putin umgeht, kommt bei anderen Menschenrechtlern nicht so gut an. Doch Ljudmila Alexejewa sagt, sie müsse ja den Obrigkeiten die Menschenrechte erklären, nicht den Aktivisten.(c) Alexei Nikolsky / Tass / picture (Alexei Nikolsky)
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Eines Tages werde Russland ein demokratischer Rechtsstaat und zu Europas Völkerfamilie gehören, sagt die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa. Ein Vorabdruck aus Carola Schneiders Geschichtenband.

Der Eingang ins Wohnhaus von Ljudmila Alexejewa im Zentrum Moskaus liegt etwas versteckt in einer Seitenstraße. Der Weg dorthin führt am Denkmal für Bulat Okudschawa vorbei, den berühmten Chansonnier, der zu Sowjetzeiten in melancholischen Liedern leise Kritik am düsteren Alltag der drückenden gesellschaftlichen Stimmung, an Krieg und Militarisierung geübt hat.

Auch Alexejewa wird nicht müde, Kritik zu üben. An der Führung, die grundlegende Freiheitsrechte einschränkt, von der Versammlungs- bis zur Pressefreiheit, die ein willfähriges Parlament und folgsame Gerichte als völlig okay ansieht. Der kritische Blick und der Wunsch, sich für eine starke Bürgergesellschaft einzusetzen, liegt Alexejewa im Blut. Den Großteil ihres Lebens hat die 90-jährige Ikone der russischen Menschenrechtsbewegung dem Kampf für politische Freiheit gewidmet. Sie ist Mitglied der ersten Stunde und seit rund 20 Jahren auch Leiterin der russischen Menschenrechtsorganisation „Moskauer Helsinki-Gruppe“. Für ihre Arbeit ist sie mit internationalen Preisen ausgezeichnet worden.

Die große Krim-Hysterie. 2017 werde Russland ein freies, demokratisches Land sein, hat Alexejewa vor einigen Jahren prophezeit. Wie sie nun über ihre Prognose denkt? „Ich hab' mich geirrt“, sagt sie und lächelt. „Das habe ich 2014 begriffen, als nach der Übernahme der Krim durch Russland eine landesweite hysterische Euphorie ausbrach.“

Damit meint sie, dass damals laut einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut 86 Prozent der Russen die Krim-Annexion guthießen. „Krim nasch“, auf Deutsch „die Krim gehört uns“, ist seither fast zum geflügelten Wort geworden, bei Befürwortern und Gegnern der Annexion. „Krim nasch“ steht für die hurrapatriotische Welle, die Russland seither erfasst hat und vielen Anhängern von Präsident Putins Führung als Rechtfertigung seines Kurses bzw. als „Trostpflaster“ für politische und wirtschaftliche Unannehmlichkeiten im Alltag gilt, die man wegen der internationalen Sanktionen halt erdulden müsse. Gegner der Annexion verwenden den Begriff, um ebendiese politisch und medial propagandistisch verstärkte Patriotismus-Welle zu kritisieren.

„Ich habe völlig unterschätzt, dass Russland als imperiale Nation zwar nicht mehr existiert, die Nostalgie aber schon. Und das nicht nur in den Köpfen der Regierenden, sondern auch in jenen der normalen Menschen“, erklärt sie. Vor allem in weniger gebildeten Schichten könnten sich viele nicht mit dem Verlust der imperialen Rolle Russlands abfinden. Diese Menschen würden die Krim-Eingliederung gut finden, nach dem Motto: „Lieber vor lauter Armut einen nackten Hintern, aber im Gegenzug in einem Land leben, das alle in der Welt wieder fürchten“, lacht Alexejewa.

Mitschuld der russischen Gesellschaft.Für sie sei nicht allein Putin am repressiven Klima schuld, sondern auch Russlands Gesellschaft, die so ein Regime fast widerspruchslos zulasse. „Jeder Machthaber in jedem Land wäre ein Despot, wenn das die Bürger zuließen. Politische Macht verleitet dazu, vor allem, wenn man lange darüber verfügt.“

Im Unterschied zu Russland existiere in demokratischen Ländern aber eine starke Bürgergesellschaft, die nicht erlaube, dass Spitzenpolitiker sich wie Herrscher aufführten. „Bei Ihnen sind Politiker Diener der Gesellschaft und versuchen alles, um dieser zu gefallen und nicht verschmäht zu werden. In Russland wird das auch einmal so sein. Aber erst, wenn auch die hiesige Bürgergesellschaft stark genug ist, um ihrer Führung Grenzen zu setzen.“

Heute ist Alexejewa Mitglied des Menschenrechtsrats des russischen Präsidenten, eines Gremiums, das viele Kritiker als Feigenblatt des Kreml bezeichnen, der sich damit schmücke wolle, ohne die Einhaltung der Grundrechte zu verbessern. Auch Alexejewa wird oft dafür kritisiert, dass sie sich bei den Sitzungen des Rats regelmäßig mit Putin trifft. Über die Kritik schüttelt sie den Kopf. „Ich bin Menschenrechtlerin, nicht Politikerin.“ Als solche müsse sie mit Machthabern zusammenarbeiten, um etwas erreichen zu können.

„Wer verletzt denn die Grundrechte im Land? Die Bürgerrechts-Aktivisten etwa? Soll ich denen erzählen, dass man Menschenrechte achten muss? Nein, das muss ich der Obrigkeit im Land erklären. Und das tue ich!“

Unter Putin werde Russland aber nicht mehr zur echten Demokratie werden, meint sie. „Ich verstehe unsere Machthaber nicht. Sie sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen. Zerstören die Wirtschaft und das Geschäftsklima im Land. Ich weiß nicht, warum. Aber wenn es so weitergeht, ist diese Obrigkeit bald am Ende und es folgt eine andere. Hoffentlich geschieht das ohne Blutvergießen.“

Sie wünsche sich Wandel durch Evolution statt Revolution. Was Revolutionen anrichten könnten, wisse sie als Historikerin gut. Jedenfalls lasse die Begeisterung unter den Russen für Präsident Putin nach, ist Alexejewa überzeugt. „Nach der Euphorie wegen der Krim-Annexion kommt langsam die Ernüchterung. Die Propaganda, die sich aus dem staatlich gelenkten Fernsehen auf die Menschen ergießt, wirkt nicht ewig. Ich werde es aber kaum erleben, dass Russland ein freier, demokratischer Staat wird“, meint sie lächelnd.

50 Jahre lang sei sie schon als Menschenrechtlerin aktiv, und wer weiß, vielleicht dauere es weitere 40, bis es so weit sei. „Aber eines steht fest“, meint sie mit blitzenden Augen: „Russland wird Mitglied der europäischen Völkerfamilie und ein demokratischer Rechtsstaat werden. Ganz sicher!“ Sowohl die christlichen Wurzeln des Landes wie auch seine Kultur und selbst die Geografie würden nichts anderes zulassen. Russland sei ein zutiefst europäisches Land, auch wenn seine Fläche bis in den Fernen Osten reiche.

Was sie sich für Russland wünsche? „Dass Russland keine Kriege mehr führt und keine Menschen mehr deswegen sterben. Kein Krieg mehr in Syrien und in der Ukraine. Haben wir etwa zu wenig Land? Wir könnten sogar noch etwas abgeben!“

Eine neue Protestwelle der Jungen.Mittlerweile flammt in Russland eine Protestwelle auf, die vor allem von jungen Menschen getragen wird. Zehntausende Russen, darunter viele Schüler, gehen im ganzen Land auf die Straße, um gegen Korruption an der Staatsspitze und Polizeiwillkür zu demonstrieren. Aufgerufen dazu hat der Oppositionelle Alexej Nawalny, der Putin bei der nächsten Präsidentschaftswahl herausfordern will.

Bei den Kundgebungen, die von den Behörden meist nicht bewilligt wurden, sind Hunderte friedliche Demonstranten, darunter viele Minderjährige, festgenommen worden. Viele haben sich davon nicht abschrecken lassen und danach erneut an solchen Protesten teilgenommen. Und dies, obwohl einige Verhaftete inzwischen wegen angeblicher Gewalt gegen die Polizei zu Haftstrafen verurteilt wurden. Die Behörden wollen offensichtlich Exempel statuieren.

Ljudmila Alexejewa jedoch stimmt die Unerschrockenheit der jungen Demonstranten optimistisch, was die Zukunft Russlands angehe, wie sie in einem Interview mit einem Moskauer Radiosender sagt. Für Russland seien diese Demos der richtige Weg. Die Jugend sehne sich nach Freiheit.

ZUM BUCH

Der Text ist aus dem neuen Buch von Carola Schneider, seit 2011 Korrespondentin des ORF in Moskau und aus Vorarlberg stammend. Sie zeigt Innenansichten eines faszinierenden und widersprüchlichen Landes, das dem Westen noch oft fremd ist und als „hart“ gilt. Sie spricht mit Menschenrechtsaktivisten, Künstlern und Journalisten, mit innovativen Käsebauern, Putin-treuen jungen Leuten und Nationalisten und malt ein differenziertes Bild Russlands, das von Widerstand und Resignation, Aufbruch und Regierungstreue erzählt.

Carola Schneider:
„Mein Russland“
Kremayr & Scheriau
160 Seiten, 22 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2017)

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