Konzert

Rolling Stones in Spielberg: Auf perfekte Weise unperfekt

Mick Jagger: ein Mann, der das Alter verweigert. Auch am Samstag in Spielberg.
Mick Jagger: ein Mann, der das Alter verweigert. Auch am Samstag in Spielberg.APA (HERBERT PFARRHOFER)
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Einmal geht's immer noch. Im 56. Jahr ihres Bestehens warfen die Rolling Stones ihre Falten auf die Videoschirme, spielten ihre wunderbar unperfekte Musik. Da ertrug man sogar den Schlamm gern.

Waren es 95.000? Oder doch nur 90.000? Seien wir nicht kleinlich: Am Sonntagmorgen standen in österreichischen, ungarischen, slowenischen, slowakischen, kurz: mitteleuropäischen Haushalten rund hunderttausend Paar sorgfältig eingedreckter, mit üppigem steirischem Schlamm durchtränkter Schuhe, Zeugnisse einer so friedlichen wie imposanten Massenwanderung, ausgelöst von vier Männern zwischen 70 und 76.

Die Rolling Stones waren da, und es war gut so. Ob es das letzte Mal war? Darüber ist schon so oft spekuliert worden (das erste Mal, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, 1982), dass es müßig ist. Hier steht man vor einer Ewigkeit, und da spricht man nicht davon, dass sie einmal vorbei sein wird. „It's all right“, rief Mick Jagger ein übers andere Mal am Ende von „Under My Thumb“, und dann wieder, ganz am Schluss, in „Jumpin' Jack Flash“: „It's all right now, in fact it's a gas.“

Wie übersetzt man das? Ein Spaß? Eine Hetz? Nun, die Rolling Stones wissen, dass das Leben keine Hetz ist, sondern oft, apropos Steine, eine Sisyphosarbeit. „Everytime I draw a breath, it's dying away“, singt Keith Richards eindringlich in „Slipping Away“: Die Tage vergehen, und während er das Lied singe, entschwinde es ihm schon. Innig singt er das, fast schön, und dann reißt er einen Akkord an, zieht in seiner charakteristischen Art die Schultern hoch und lächelt tief, lässt das Faltengebirge seines Gesichts beben ...

(v.l.) Die 'Rolling Stones', Ronnie Wood, Charlie Watts, Keith Richards und Mick Jagger am Samstag, 16. September 2017, anlässlich eines Konzertes in Spielberg.
(v.l.) Die 'Rolling Stones', Ronnie Wood, Charlie Watts, Keith Richards und Mick Jagger am Samstag, 16. September 2017, anlässlich eines Konzertes in Spielberg.APA (HERBERT PFARRHOFER)

Alte Männergesichter

Wenn man einen Tauben fragen hätte können, was die Botschaft dieses Konzerts sei, er hätte geantwortet: Alte Männergesichter. Auf den riesigen Quadern der Videotürme sah man großteils diese, oft in gütigem, historisierendem Schwarzweiß. Vier magere, hagere Männergesichter in Großaufnahmen, Furchen wie der Grand Canyon, Hohlwangen wie der Michigansee, Kinnpartien wie das Mississippidelta. Kein Deka Fett hier, auch nicht auf den Bäuchen, keine Spuren von tröstlichen Mahlzeiten, von „comfort food“, von „soul food“.

So wirkt auch die Musik der Rolling Stones, so bildreich Jagger in „Start Me Up“ die Fleischeslust besingen mag, nicht fleischlich. Kein üppiger, in seiner Üppigkeit saturiert schwelgender Rock'n'Roll. Keine kulinarischen Arrangements, keine Beilagen. Von Tournee zu Tournee verweigern Keith Richards und Ron Wood immer entschiedener, ihren Sänger brav zu begleiten. Nein, leicht machen sie es Mick Jagger nicht, und der will es auch nicht leicht haben, er will „Satisfaction“, aber keine billige, er will für sie laufen und raufen.

"Sympathy": Pilatus im Credo

Schon der Anfang des Konzerts bei Spielberg war wunderbar chaotisch: Über Charlie Watts' wie immer perfektem Getrommel hörte man zunächst nur Jagger, gleich zu Beginn als Teufel posierend, überlaut, überdeutlich: „Made damned sure that Pilate washed his hands and sealed his fate“, sang er, jede Silbe betonend wie ein Neunmalfrommer, der beim Credo die restliche Gemeinde übertönen will. Was konnte Richards dem hinzufügen? Schroffe Akkorde, von denen schon der zweite so dissonant, so herrlich falsch klang, dass es etwaigen Kuschelrockfreunden im Publikum die gatschigen Schuhe ausgezogen haben muss.

"Keine Songs von Helene Fischer"

Aber, wie Jagger – nach der Verkündigung des Ergebnisses der Publikumswahl ("She's A Rainbow") – erklärte: „Sorry we don't know any Helene Fisher songs.“ Der Schmäh ist ganz gut, aber alt, und überhaupt ist Jagger dafür, dass er einer der klügsten Köpfe des Pop ist, ein mediokrer Moderator. Er erkundigt sich zu oft nach dem Befinden des Publikums, die eingelernten deutschen Sätze ("Hello Oisterrach") wirken anbiedernd und unfreiwillig komisch, sein Gestus der mephistophelischen Höflichkeit funktioniert nicht mehr wirklich, so virtuos er den Kratzfuß beherrscht.

Ohne – gesprochene! – Worte ist er besser. Etwa wenn er im jedes Mal aufs Neue erschreckenden Frauenmörder-Drama „Midnight Rambler“ das Tempo gespenstisch drosselt. (Ein entsprechend geisterhafter Moment: Keith Richards murmelte kurz in die Beinahe-Stille hinein die alte, von den Stones schon 1971 adaptierte Gospelzeile „You gotta move“.) Oder wenn er sich in „Under My Thumb“, die Lippen breit geschürzt, in einen Furor aus Trotz und Verachtung stürzt. (Immerhin ersetzte er in diesem definitiv nicht frauenfreundlichen Song die Bezeichnung „squirming dog“ durch „charming girl“.) Wenn er in „Gimme Shelter“ mit der fantastischen Sasha Allen ein Duett singt, nein: schreit, nein: gellt; ein Duett, das auch optisch wie ein heftiger Ehestreit wirkt, der im Bett enden muss. Auch das ist eine Facette dieses großen Songs. Um ihn – und damit die Gewalt des Lebens – zu feiern, zügelten sogar Wood und Richards kurz ihre aufsässigen Energien.

In „Paint It Black“ ließen sie diese um so heftiger frei. Das düstere Lied, von Charlie Watts zu rasendem Tempo getrieben, zerfiel am Ende in einen brüllenden Katzenjammer, mit dem auch passionierte Freejazzer ihre Freude gehabt hätten.

"Brown Sugar" kann nerven

„She's A Rainbow“ war berührend, vielleicht etwas zu wenig naiv; „Miss You“, der Stones-Ausflug in die Disco, passte vor allem dank des Bassspiels von Darryl Jones perfekt; in „Tumbling Dice“ hörte man kurz ein schönes Bläserarrangement im verrauchten Spielsalon. Dass diese Band alte Bluessongs mit Herz spielen kann, ist seit gut 55 Jahren bekannt. Die beiden ausgefallensten Stücke im wenig originellen Programm der "No Filter"-Tour, "Dancing With Mr. D" und "Out Of Control", wurden diesmal ausgelassen. Am Schluss häuften sich die kanonischen Riff-Klassiker etwas zu sehr, auch als überzeugter Stones-Apologet darf man sagen: „Brown Sugar“ nervt spätestens, wenn Jagger am Schluss zum kollektiven Hochreißen animiert. Alter Sklaventreiber . . .

Aber als man dann bei „Satisfaction“ Charlie Watts dabei zusehen durfte, wie er Keith Richards ein unendlich langsames Grinsen schickte, als wolle er mit ihm gemeinsam den unermüdlich mit allen Gliedern strampelnden, hechelnden, emsig um Sympathie und Befriedigung buhlenden Mick Jagger ein wenig ausrichten, war man wieder glücklich. Schließlich sieht man die Rolling Stones nicht alle Tage, das Leben ist ein Gas, was immer das sein mag, jeder Heimreisestau hat einmal ein Ende, und die Schuhe sind bald wieder geputzt.

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