Lebensgefühl Zweipunktnull

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Was uns in den Nullerjahren beschäftigte, wie wir den Alltag gestalteten, wonach wir strebten und wofür wir lebten.

Wir schreiben das Jahr 2050, und ich sitze mit einem jungen, wissbegierigen Journalisten im Palmenvorgarten meines Hauses im Salzkammergut. Wir trinken Kaffee aus Kärnten, essen Schokolade aus echtem Tiroler Hochlandkakao und unterhalten uns über die Nullerjahre unseres Jahrtausends. „Im Rückblick betrachtet“, beginne ich mit ernster Zeitzeuginnenmiene, „erscheint mir das Leben der Nullerjahre sehr kühl und voller Ängste. Wir fürchteten uns vor der Vogelgrippe, der Schweinegrippe, Anthrax-Viren, dem Rinderwahn und islamischen Gebetshäusern. Außer diejenigen natürlich, die damals schon mehr im World Wide Web lebten.

Das Nullerjahrzehnt liebte Nostalgie

Wobei in den Nullerjahren das reale Leben immer noch vorherrschend war. Wir hatten schließlich reale Arbeitsstellen mit realen, ‚menschlichen‘ Chefs. Damals existierten ja auch noch nationale Parteien, Standesvertretungen und sogar Gewerkschaften! Aber sie hatten bereits mehr nostalgischen Charakter. Das Nullerjahrzehnt liebte das Nostalgische. Man klammerte sich an das vergangene Jahrhundert. Wahrscheinlich waren wir die ers-te Generation, die schon mit zwanzig sentimentale Kindheitserinnerungen pflegte. Die Jungs trennten sich bis weit über vierzig nicht von den Ikonen ihrer Kindheit: Comic-Tattoos, Elektrogitarren, Snoopy-Zahnputzbechern oder Vinylplattensammlungen, obwohl es dafür kaum noch Abspielgeräte gab. Die ‚Girlies‘ trugen rosa Prinzessinnen-Schühchen, Kuscheltiertaschen und bunte Röckchen, obwohl sie schon längst ihre Pensionsversicherung abgeschlossen hatten. Erwachsenwerden betrachtete man als große Bedrohung.

Klitoris ist keine Insel in der Ägäis

Die Jugend endete offiziell mit 65. Und das Älterwerden mit 35. Dann blieb man dreißig Jahre lang stehen. Wir lernten das damals von den ‚35-jährigen‘ schuhe- und klamottenbesessenen Hauptdarstellerinnen einer amerikanischen Fernsehserie, die uns Frauen der Nullerjahre endgültig beibrachte, dass ‚Klitoris‘ keine Insel in der Ägäis ist. Für die Kosmetikindustrie war dieses Jahrzehnt ein erster großer Höhepunkt. Auch für Schönheitschirurgen und Diätgurus.

‚Nine Eleven‘ war das Wort des Jahrzehnts, das Handy das Gerät des Jahrzehnts, Laufen der Sport des Jahrzehnts, Coffee to go das Getränk des Jahrzehnts, Soja das Nahrungsmittel des Jahrzehnts, Chili das Gewürz des Jahrzehnts, Viagra das Medikament des Jahrzehnts, Botox die Spritze des Jahrzehnts, TCM die Abkürzung des Jahrzehnts, ‚Dinner Cancelling‘ der gute Vorsatz des Jahrzehnts, ‚Anti Aging‘ die Lebenslüge des Jahrzehnts, ‚Bio‘ das Präfix des Jahrzehnts, Neurobiologie die Religion des Jahrzehnts, der Blog das Poesiealbum des Jahrzehnts, Müll der Berg des Jahrzehnts, Nachhaltigkeit das Ammenmärchen des Jahrzehnts, ‚Lebensmensch‘ das Unwort des Jahrzehnts, SUV der Schwanzersatz des Jahrzehnts, Weintrinken der Karrieremotor des Jahrzehnts, ‚Freitag‘ der Taschenname des Jahrzehnts, Barack Obama der Schwarze des Jahrzehnts, Michael Jackson der Weiße des Jahrzehnts, Angelina Jolie die Madonna des Jahrzehnts, Madonna die Turnlehrerin des Jahrzehnts, der Mond die Fernreisedestination des Jahrzehnts. Sneakers waren das Schuhwerk des Jahrzehnts, Personal Trainer das Must-have des Jahrzehnts, Wasserflaschen das Accessoire des Jahrzehnts, Kochbücher der Bibelersatz des Jahrzehnts …“

Coaching im Kindergarten

„Halthalthalt!“, unterbricht mich der junge Journalist, als ich gerade Luft hole. „Mich würde mehr das normale Leben interessieren. Wie war denn der Alltag damals? Wie haben die Familien funktioniert?“
„Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, antworte ich, „wegen der Angst vor dem Älterwerden haben wir sehr wenige Kinder bekommen. Zum Leidwesen der Wirtschaftsbosse und Finanzminister. Die wenigen Kinder, die wir kriegten, förderten wir entsprechend. Mit Fremdsprachenunterricht in der Krabbelstube und Personal Coaching im Kindergarten. Zum Ausgleich wurden sie von uns mindestens bis zum vierten Lebensjahr in ihren SUV-Kinderwagen herumgefahren. In den Nullerjahren wurde es deshalb auch für Väter langsam attraktiv, sich um die Kinder zu kümmern. Und wohl auch, weil Nachwuchs Seltenheitswert hatte. Männer konnten damals ja noch keine Kinder kriegen.“
Und weil der junge Journalist so gute Manieren hat und so gut aussieht, behalte ich ihn nach dem Interview vielleicht noch über Nacht bei mir, bevor er am nächsten Tag mit seinem sonnenbetriebenen Luftkissenvehikel nach Hause zischt.

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