Leitartikel

Die deutschen Wähler präsentierten Rechnung für die Flüchtlingskrise

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Mit ihrer Politik der offenen Grenzen schuf CDU-Kanzlerin Merkel zu viel Raum rechts der Mitte. Das rächte sich. Die Große Koalition ist abgewählt.

Deutschland ist nach rechts gerückt. Mit zwei Jahren Verspätung präsentierten die deutschen Wähler ihre Rechnung für die Flüchtlingskrise. Es ist allein dieses Thema, das die "Alternative für Deutschland" (AfD) so stark gemacht hat. In einem anderen politischen Umfeld wären die Rechtsnationalisten angesichts ihrer eklatanten Führungsschwäche und ihrer wiederkehrenden Grabenkämpfe längst auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet. Doch der anhaltende Unmut über Angela Merkels Politik der offenen Grenzen und die Massenzuwanderung hat dieser bereits todgeweihten Anti-Euro-Bewegung neues Leben eingehaucht.

Der Cordon sanitaire, den deutsche Medien um die AfD gezogen haben, hat nichts genützt. Das rechte Sammelbecken für die radikal Unzufriedenen verdreifachte bei der Bundestagswahl sein Ergebnis und katapultierte sich auf den dritten Rang. Sollte sich die SPD abermals für eine Große Koalition hergeben, wäre künftig eine europafeindliche Partei stärkste Oppositionskraft im Bundestag, die Rassisten und Geschichtsrevisionisten in ihren Reihen hat. Für Deutschland bedeutet das einen Kulturbruch. Weniger aufgeregt lässt sich anmerken, dass sich das Land gleichsam normalisiert: Der Rechtspopulismus hält nun auch in Europas letzter Bastion der Mäßigung Einzug. In Moskau gibt es jedenfalls jemanden, der sich über dieses Ergebnis sehr freuen wird.
Rechts der Mitte hatten auch moderate Kritiker Merkels eine Möglichkeit, der Kanzlerin einen Denkzettel zu verpassen. Auch dieses Angebot haben die Wähler weidlich genützt. Die FDP hat sich verdoppelt und ist unter ihrem redegewandten Parteichef, Christian Lindner, mit neuer Stärke in den Bundestag zurückgekehrt.

Merkel ist bei dieser Wahl trotzdem mit einem blauen Auge davongekommen. Denn die Stimmen, die sie rechts verlor, holte sie zum Teil links zurück: bei der SPD. Und so bleibt die CDU-Chefin auch nach diesem Schlafwagenwahlkampf – vorerst – die unumstrittene Nummer eins. Lang jedoch wird es nicht dauern, bis sich innerhalb der Union die Mäkler und Meckerer formieren. Das Wahlergebnis ist in Anbetracht der hervorragenden Wirtschaftsdaten schwach. Und für die CDU/CSU stellt es eine strategische Katastrophe mit potenziell verheerenden Langzeitfolgen dar, dass Merkel rechts von ihr so viel Platz für eine neue Partei geschaffen hat. Die AfD hat nun alle finanziellen und medialen Möglichkeiten, den Bundestag als Bühne zu nutzen, um Wurzeln zu schlagen. Die Union wird eine Antwort auf die AfD finden müssen. Weiter nach links zu driften und das konservative Feld ganz aufzugeben wird vermutlich kein Erfolgsrezept sein.

Doch das ist Zukunftsmusik. Zunächst hat Merkel alle Hände voll zu tun, einen Regierungspakt zu schmieden. Die Rechtsnationalisten der AfD wird sie in der Opposition verhungern lassen wollen. Mit seinem aggressiven Aufruf, Merkel zu „jagen“, hat sich AfD-Chef Gauland einmal mehr noch in der Wahlnacht disqualifiziert. Die Große Koalition haben die Deutschen abgewählt. Christ- und Sozialdemokraten fuhren die schlechtesten Ergebnisse seit 1949 ein. Die SPD will sich nach ihrem Debakel kein weiteres Mal ins Koalitionsjoch zwingen lassen. Merkels Umarmung hat sich für die Sozialdemokraten als Nahtoderfahrung erwiesen. Regenerieren wird sich die SPD nur in der Opposition können. Aber auch dort wird die Genesung nicht einfach sein. Die Sozialdemokratie hat in ihrer traditionellen Ausprägung ein tieferes Problem. Ihre Auflösungserscheinungen zeigen sich in ganz Europa. Siegeschancen haben sozialdemokratische Kandidaten nur noch, wenn sie sich – wie zuletzt Emmanuel Macron in Frankreich – von ihren Parteien lossagen.

Da die SPD nicht mehr will, bleibt Merkel nur noch eine Jamaika-Koalition mit der erstarkten FDP und den Grünen. Eine leichte Übung wird der Regierungs-Reggae nicht. Denn die beiden Backgroundsänger, die Merkel nun gerne ihrer neuen Band hätte, sind einander alles andere als grün. Und der Vampireffekt, unter dem Merkels ausgesaugte Koalitionspartner zu leiden haben, ist nun zum dritten Mal wahlamtlich dokumentiert. Nach der Absage der SPD ist Merkel zur Jamaika-Koalition verdammt – und damit zu einem Aufbruch zu neuen Ufern.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2017)

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