Die Strategie des Totalangriffs auf die Bundeskanzlerin war für die rechtspopulistische AfD riskant, doch sie hat sich ausgezahlt.
Die Geschichte des Aufstiegs der Alternative für Deutschland (AfD) zur drittstärksten Kraft im Bundestag lässt sich auf viele Arten erzählen. Man kann sie in das gesamteuropäische Narrativ einer populistischen Revolte gegen die Eliten einbetten, im tiefen Schatten der deutschen Kriegsschuld nach Indizien suchen, den Wahlerfolg mit den Migrationsströmen in Verbindung bringen oder die ökonomischen Umwälzungen der Globalisierung als Erklärung bemühen. Man kann es sich aber auch ganz leicht machen, nach dem alten Biologieschulbuch greifen und das Kapitel über Zellteilung aufschlagen.
Die Ursprungszelle der AfD war demnach der Ökonom Bernd Lucke, der die Partei 2013 als inhaltlich eng fokussierte Reaktion auf die Eurokrise gegründet hatte. Luckes honoriger Professorenzirkel fristete ein Nischendasein, bis es 2015 zur ersten Zellteilung kam: Dank der Kovorsitzenden Frauke Petry löste sich aus dem alten Nukleus eine neue, populistische Zelle heraus, die sodann nach rechts driftete. Nach abermals zwei Jahren folgte am gestrigen Montag die nächste Zellteilung – und diesmal war es Petry selbst, die die Fraktion verließ, weil sie ihr zu rechtslastig geworden war.
Hat die AfD damit eine stabile Entwicklungsstufe erreicht? Dafür sprechen mindestens drei Gründe. Erstens: Je älter ein Organismus, desto träger und teilungsfauler seine Zellen. Zweitens: Die Alternative für Deutschland wird nicht in die Verlegenheit kommen, ihre Wahlpostulate unter realen Bedingungen erproben zu müssen. Sie umschifft damit die Gefahr der Destabilisierung durch politische Mitverantwortung. Diese Gefahr ist durchaus real, wie hierzulande die aus der schwarz-blauen Ära der vergangenen Dekade bekannte Zellteilung FPÖ/BZÖ belegt.
Und die AfD hat drittens ihre Klientel gefunden, die im Zorn auf die Zumutungen des mitteleuropäischen Lebens im Allgemeinen und Angela Merkel im Speziellen vereint ist. Die Strategie des Totalangriffs auf die Bundeskanzlerin war riskant, doch sie hat sich schlussendlich ausgezahlt: Die unbändige Wut auf die Exponentin des Berliner „Establishments“, die in Onlineforen, bei Demonstrationen und als Schreichöre bei Wahlveranstaltungen von Merkels CDU artikuliert wurde, hat sich als identitätsstiftend erwiesen. Sie hat eine Betriebstemperatur erzeugt, bei der disparate Milieus – Ossis und Wessis, Arbeitslose, Arbeiter und Angestellte, Maturanten und Pflichtschulabsolventen, besorgte Bürger und ewiggestrige Ausländerfeinde – zu einem ressentimentgeladenen Amalgam verschmelzen konnten. Vieles spricht dafür, dass sich diese neue politische Legierung als haltbar erweist. Sündenböcke lassen sich auch nach Merkels Abgang (wann immer er auch stattfinden mag) leicht finden.
Was dem AfD-Amalgam zusätzlich Härte verleiht, ist die Tatsache, dass Furcht vor Überfremdung und Islamisierung nicht der einzige Treibstoff der deutschen Populisten ist – es geht ebenfalls um materielle Abstiegsängste, Löcher in der sozialen Nahversorgung, um rostige Infrastruktur und nicht bzw. nur teilweise eingelöste Wohlstandsversprechen. Wirtschaft und Identität greifen ineinander. Wer glaubt, man müsse lediglich einen Teil der deutschen Budgetüberschüsse zu den strukturell schwachen Regionen umleiten, um der AfD ihre Wähler abspenstig zu machen, irrt gewaltig. Es ist aber auch ein mindestens ebenso großer Irrtum zu glauben, das Problem lasse sich mit der Abriegelung der Grenzen und Härte gegenüber Migranten aus der Welt schaffen.
Derartige Maßnahmen können kurzfristig wirken und Komponenten einer nachhaltigen Lösung sein, doch die Suche nach dieser Lösung erfordert mehr Gehirnschmalz. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, was auf die nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa erodierende Mitte folgen soll. Die Mehrparteienkoalition CDU/CSU/FDP/Grüne wäre einerseits eine Verlegenheitslösung, andererseits ein spannendes politisches Experiment, bei dem neue Variationen der politischen Statik erprobt werden könnten. Die Zeiten, in denen Deutschland als langweiliger Stabilitätsanker der europäischen Politik fungiert hat, sind jedenfalls vorbei.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2017)