Die Kurden in Nordirak stimmten für die Eigenständigkeit. Der türkische Präsident Erdoğan warnt vor einem Bürgerkrieg.
Tunis/Erbil. Hupend kreisten Autokorsos durch die Straßen von Erbil, der Hauptstadt der nordirakischen Kurdenregion. Menschen tanzten auf den Bürgersteigen, schwenkten die rot-weiß-grünen kurdischen Fahnen und machten Selfies, während erste Zahlen über das Referendum der nordirakischen Kurden die Runde machten. 72 Prozent der knapp 4,6 Millionen Wahlberechtigten haben abgestimmt. Nach inoffiziellen Teilergebnissen, die die Website Rudaw veröffentlichte, votierten über 90 Prozent mit Ja, das entspricht etwa drei Millionen Stimmen. „Auf Wiedersehen Haidar“, skandierten die Menschen im Richtung des irakischen Regierungschefs Haidar al-Abadi. Für sie ist das Ergebnis ein Meilenstein auf dem Weg zu einem eigenen Staat, obwohl das Votum nicht bindend ist. Etwa die Hälfte der geschätzten 30 Millionen Kurden lebt in der Türkei, die andere Hälfte verteilt sich auf die Staaten Iran, Irak und Syrien.
Ausgangssperre in Kirkuk
Begleitet wurde das Plebiszit von erneuten Drohungen aus Bagdad, Ankara und Teheran. Auch die USA zeigten sich „zutiefst enttäuscht“: Die Abstimmung werde „die Instabilität und das Leiden für die kurdische Region und ihre Bevölkerung erhöhen, betonte das Außenministerium in Washington. Das irakische Parlament erklärte das Vorgehen der Kurden für verfassungswidrig. Es autorisierte Ministerpräsident Haidar al-Abadi bereits am Montag, notfalls die Armee einzusetzen, falls es in Teilen der Abstimmungsgebiete zu Unruhen kommt.
In der umstrittenen Stadt Kirkuk, wo neben Kurden auch viele Araber und Turkmenen leben, blieb es am Dienstag ruhig, nachdem in der Nacht zuvor eine Ausgangssperre verhängt worden war.
In Teheran denunzierte die erzkonservative Zeitung Kayhan, die als Sprachrohr des Obersten Revolutionsführers Ali Khamenei gilt, die Abstimmung als eine „Verschwörung“ Israels. Israel hatte als einziger Staat der Region das Vorgehen der Kurdenführung unter ihrem Regionalpräsidenten Massud Barzani offen unterstützt.
Auch Kurden im Iran jubeln
Der iranische Parlamentspräsident Ali Larijani stellte klar, dass Teheran das Ergebnis des kurdischen Unabhängigkeitsreferendums im Nachbarland nicht anerkennen werde. „Alles, was zu einer Desintegration der Region führt, können wir nicht akzeptieren“, sagte Larijani vor einer Sitzung des Parlaments. Die iranische Führung ließ zudem in Grenznähe Militärmanöver abhalten. Die iranischen Revolutionsgarden kündigten an, an der Grenze zur nordirakischen Kurdenregion moderne Raketensysteme zu stationieren.
Das Führung in Teheran befürchtet, das nordirakische Beispiel könnte bei der eigenen kurdischen Minderheit Schule machen. In der westiranischen Grenzstadt Sanandaj gingen Tausende Kurden auf die Straße, um das Referendum im Nachbarland zu feiern. Ähnliche Kundgebungen gab es auch in Qamishli, der Hauptstadt der syrischen Kurden. Als Reaktion bot Damaskus der dortigen Bevölkerung am Dienstag erstmals Gespräche über eine Teilautonomie an.
„Jahrelanger Trennungsprozess“
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan warnte vor einem Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen im Nordirak. Eine kurdische Unabhängigkeit sei inakzeptabel, der Ausgang der Abstimmung null und nichtig, sagte Erdoğan. So wie bereits am Montag drohte er abermals damit, die Ölexporte der nordirakischen Kurdenregion zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu stoppen. Die Kurdenregion exportiert derzeit etwa 550.000 Barrel Rohöl pro Tag, der regionale Staatshaushalt hängt weitgehend von diesen Einnahmen ab.
Kurdenpräsident Barzani versuchte unterdessen erneut, die Nachbarn und die internationale Gemeinschaft zu beruhigen: Es gebe keine Pläne, umgehend die Unabhängigkeit auszurufen. Der Zentralregierung in Bagdad bot Barzani Gespräche an, um alle Differenzen friedlich zu lösen. „Das Referendum ist der Beginn eines jahrelangen Trennungsprozesses vom Irak“, erklärte der Präsident der Kurdenregion – „ein Trennungsprozess, den wir hoffentlich durch Dialog und Verhandlungen erreichen können.
AUF EINEN BLICK
Die autonome Kurdenregion im Nordirak
hat trotz massiver Drohungen der irakischen Zentralregierung in Bagdad und der Nachbarländer Türkei und Iran ihr Unabhängigkeitsreferendum abgehalten. Wie erwartet stimmte ein überwiegender Teil der Menschen für eine staatliche Eigenständigkeit. Kurdenpräsident Massud Barzani versuchte nach dem Referendum zu beruhigen. Die Abstimmung sei der Beginn eines „jahrelangen Trennungsprozesses“ vom Irak. Er rief die Regierung in Bagdad dazu auf, Verhandlungen zur Beilegung der Differenzen zu starten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2017)