Die Kommission will als Folge der Pariser und Brüsseler Anschläge Grenzkontrollen von bis zu drei Jahren erlauben. Ihre Mittel gegen Willkür der Innenminister sind dabei limitiert.
Brüssel. Sechs Wochen vor dem Auslaufen der außerordentlichen Kontrollen an den Grenzen Österreichs und einer Handvoll anderer Staaten legt die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Überarbeitung des Schengensystems vor. Im Fall einer „schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ soll es dem Willen der Kommission nach künftig für die Innenminister möglich sein, für zweimal sechs Monate die Einreise an ihren Grenzen zu anderen Schengenmitgliedern kontrollieren zu lassen. Sollte sich nach diesem ersten Jahr herausstellen, dass die Bedrohung weiterhin vorliegt, dürften die Grenzkontrollen für bis zu zwei weitere Jahre verlängert werden.
Geänderte Bedrohungslage
Für bis zu drei Jahre soll ein Staat künftig also Grenzkontrollen verhängen dürfen, was der grundsätzlichen Idee schrankenlosen Reisens im Schengenland widerspricht. Bisher dürfen sie das, in 30-Tage-Abschnitte geteilt, höchstens sechs Monate. Die Unionsbehörde reagiert damit auf die Pariser und Brüsseler Mordanschläge. Es dauert oft länger als sechs Monate, um eine im Schengenraum tätige Terrorgruppe mit Schläferzellen und Verbindungen in klandestine Kriminellennetze auszuheben, wie es die Gruppe um die Komplottführer Salah Abdeslam und Abdelhamid Abaaoud war. Die Kommission wehrte sich schon am Mittwoch gegen den Vorwurf, gegenüber den Innenministern eingeknickt zu sein und ihnen die willkürliche Einführung von Grenzkontrollen zu erleichtern. Wolle ein Staat diese Maßnahme ergreifen, müsse er vorab der Kommission eine genaue Darstellung des konkreten Sicherheitsrisikos vorlegen, welches er durch die Grenzkontrollen mindern wolle. Falls diese Begründung in den Augen der Kommissionsjuristen an den Haaren herbeigezogen ist und somit dem Europarecht widerspricht, könne die Unionsbehörde ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.
Formaljuristisch stimmt das, in der politischen Realität werden es die Innenminister mit dieser Reform aber leichter haben, die Grenzen unter Anführung mehr oder weniger vager Sicherheitsbedrohungen dicht zu machen.
Es hilft der Kommission in ihrem Bemühen, die Errungenschaften Schengens zu verteidigen, auch nicht, dass der Kodex in seiner derzeitigen und künftigen Form mehrere Möglichkeiten bietet, Grenzkontrollen einzuführen. Die seit zwei Jahren laufenden und am 11. November endenden Kontrollen an Österreichs Grenze zu Ungarn und Slowenien sowie zwischen Bayern und Salzburg und an den Grenzen Schwedens, Dänemarks und Norwegens (das nicht Unionsmitglied ist, aber dem Schengenraum angehört) fußen zum Beispiel auf einem anderen Artikel des Schengener Kodex. Er gilt für schwerwiegende Mängel beim Schutz der gemeinsamen Außengrenzen, wie sie Ende 2015 bei einer EU-Inspektion in Griechenland zutage getreten sind. Diese Mängel seien nun behoben, zudem kämen wegen des Abkommens mit der Türkei viel weniger Migranten und Flüchtlinge über die Balkanroute. Darum dürfe dieser Artikel 29 fortan nicht mehr angewendet werden; er bleibt im Novellenvorschlag auch unberührt.
50.000 Flüchtlinge umsiedeln
Für gewisse Verwirrung sorgte zudem die Entscheidung der Kommission, parallel zur komplizierten Schengen-Reformvorlage vorzuschlagen, dass die EU-Staaten bis Oktober 2019 50.000 anerkannte Flüchtlinge aus Übersee aufnehmen. Dieses „Resettlement“ hat nichts mit der „Relocation“ von bisher rund 29.000 in Italien und Griechenland gestrandeten Asylwerbern zu tun. Vielmehr soll auf diese Weise tatsächlich Schutzbedürftigen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer erspart werden. 23.000 solcher Flüchtlinge haben die EU-Staaten bereits aufgenommen: allerdings freiwillig. Das soll auch so bleiben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2017)