Das Schachcafé als Vaterland der Heimatlosen

Schachspiel
SchachspielAPA/AFP/BILL GREENBLATT
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Schach in Wien. Was verbindet die Rothschilds mit Leo Trotzki, Arthur Schnitzler mit Sigmund Freud? Sie alle besuchten die Wiener Kaffeehäuser und spielten dort, umgeben von Kiebitzen, leidenschaftlich gerne Schach. Eine Exkursion in Wiens Goldenes Schachzeitalter.

Dass Philosophen und Bürger im Zeitalter der Aufklärung Anhänger des Schachspiels waren, erscheint plausibel: Ohne vorbehaltlosen Einsatz des Verstandes ganz im kantischen Sinn war bei diesem Spiel nichts zu holen. Aber auch Monarchen und Feldherren wurden im 18. Jahrhundert Freunde dieses Spiels: Die Truppen auf dem Spielbrett mussten klug gelenkt werden, um den Schlachtensieg zu erringen.

Unter Joseph II. kam es so zu einer ersten Blüte des Schachs, in seiner Zeit beginnt sich auch der soziale Rahmen zu ändern, in dem gespielt wird: Das Kaffeehaus, das Schachcafé, beginnt als Spielort den privaten, sozial abgedichteten Salon abzulösen. In diesen durchmischten Räumen gelang etwas, was gesellschaftlich noch eine Utopie war: Eine egalitäre, demokratische Semiöffentlichkeit, wo nur die Fähigkeiten auf dem Schachbrett zum Maßstab für gesellschaftliche Anerkennung wurden. Das Café Taroni am Graben, das Griechische Kaffeehaus auf der Brandstätte zog die Gäste auch wegen der Schachprofessionals an, sie spielten um Geld oder gaben Unterricht.

Hier ist der Wiener Michael Ehn, einer der führenden Schachhistoriker im deutschsprachigen Raum, in seinem Element. Ehn betreibt in Wien die Buchhandlung „Schach und Spiele.“Er erzählt uns die Lebensschicksale der großen Schachmeister in Wien, dem „Weltzentrum des Schachspiels“. Viele waren Juden, 1938 brachte nicht nur das Ende der Kaffeehauskultur in Wien, sondern auch das der schachspielenden „Luftmenschen.“

Ehn, der rührige Schach-Publizist, schildert mit unglaublich viel Detailwissen und Anekdotenreichtum die Blüte des Schachspiels in Wien, die sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst so richtig entwickelte. Für einige Jahrzehnte wurde Wien zu einer internationalen Schachgroßmacht, Talente aus allen Teilen der Monarchie wanderten in die Hauptstadt.

Auch Schachamateure unter den Lesern werden glänzend unterhalten. Viele der Schachliebhaber konnten eben auch wunderbar formulieren, etwa der selbstironische Roda Roda über sich und seinen Schachpartner: „Über uns an unsichtbarem Faden hängt das Schwert des Damokles. Rechts, links, hüben, drüben ahnt der Partner unermessliche Abgründe. Der leiseste Zug kann den Tod bringen. Mir oder dir?“ Für den heimatlosen Joseph Roth war das Schachspiel geradezu konstitutiv als ein Teil seines Heimatgefühls: Die Spieler, die sich täglich zur gleichen Zeit in den verrauchten Schachcafés versammelten, „all dies war Heimat, stärker als nur ein Vaterland, weit und bunt, dennoch vertraut und Heimat: die kaiser- und königliche Monarchie.“

Es kam schon vor, etwa im Café Central, dass die zahlreichen herumstehenden Kiebitze die Herrschaft über eine Partie übernahmen. Gar nicht so selten, dass einer von ihnen sich geharnischt zu Wort meldet: „Im Namen der versammelten Kiebitze ersuche ich Sie, diesen Zug zu unterlassen!“ Und wenn dann auch noch die Gegner einander mit Hohn und Spott übergießen, war das die Höchstform des Schachs, das Sprechschach. Nur wahrhafte Meister konnten zugleich schimpfen und denken, so Michael Ehn, der wahrhafte Meister der Schachanekdote. Wir danken ihm für dieses schöne Buch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2017)

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