Grenzkontrollen bleiben: Schengens langsames Ableben

Der (neue) Normalzustand: Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland soll für weitere sechs Monate kontrolliert werden.
Der (neue) Normalzustand: Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland soll für weitere sechs Monate kontrolliert werden.(c) APA/AFP/GUNTER SCHIFFMANN (GUNTER SCHIFFMANN)
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Österreich und fünf weitere Staaten wollen weiterhin ihre Grenzen kontrollieren, obwohl damit eigentlich Schluss sein müsste. Ihre Gründe klingen so schwerwiegend wie vage.

Brüssel. Seit zwei Jahren ist die freie Fahrt über die Grenzen von Österreich nach Slowenien und Ungarn nicht mehr möglich. Die zentrale Errungenschaft des Schengener Abkommens, den Bürgern ihrer Mitgliedstaaten die Grenzkontrollen zu ersparen, wurde angesichts des Ansturms von Flüchtlingen und Migranten auf Griechenlands Grenzen und die unzureichenden Schutzmaßnahmen der Athener Regierung ausgesetzt. Mehrfach wurden die Kontrollen um jeweils sechs Monate verlängert, doch am 11. November, in vier Wochen, sollte damit nach den Buchstaben des Schengen-Kodex Schluss sein.

Das betonen die Sprecher der Europäischen Kommission seit Monaten gebetsmühlenartig. Um rund 90 Prozent weniger Flüchtlinge kämen seither in Griechenland an, bemüht man seitens der Kommission die Statistik. Die Gründe für die Grenzkontrollen von Österreich, Deutschland, Schweden, Dänemark und dem Nicht-EU-Mitglied Norwegen, das an Schengen teilnimmt, seien somit weggefallen. Zudem hat die Kommission einen Reformvorschlag vorgelegt, der Kontrollen von bis zu maximal drei Jahren erlauben würde.

Zugkontrollstelle am Brenner

Bloß kümmert das die Innenminister nicht. Am Donnerstag und Freitag erklärten sie im Rahmen des Ratstreffens in Luxemburg, dass sie die Kontrollen bis Mai 2018 verlängern wollen. Der Kommissionsvorschlag für die Schengenreform wurde erstmals diskutiert, Beschlüsse gab es noch keine. Österreichs Innenminister, Wolfgang Sobotka, begründete vielmehr den Wunsch nach der Fortsetzung der Kontrollen so: „Aufgrund der angespannten Sicherheitslage sowie bestehender Defizite beim Schutz der EU-Außengrenzen und illegaler Sekundärmigration sind Kontrollen an unseren Grenzen weiterhin erforderlich.“

Das klingt ernst – aber beliebig. Es ist offensichtlich, dass diese Kontrollen für die nun abtretende Bundesregierung zu einem dauerhaften Provisorium geworden sind, einschließlich baulicher Maßnahmen. Am Freitag nahm das Innenministerium nahe dem Brennersee an der Grenze zu Italien eine Kontrollstelle für Güterzüge in Betrieb. Dort sollen aus dem Süden kommende Züge auf blinde Passagiere untersucht werden. Allein in der abgelaufenen Woche seien 31 Flüchtlinge oder Migranten auf diese Weise auf der Brennerstrecke aufgegriffen worden, sagte der Tiroler Landespolizeidirektor, Helmut Tomac.

Die Kontrollstelle sei allerdings „nur die zweitbeste Möglichkeit“, erklärte Tomac. „Denn die beste wäre nach wie vor die gemeinsame Kontrolltätigkeit von österreichischen und italienischen Polizisten auf dem Bahnhof Brenner.“

Diese Episode veranschaulicht, woran es in der europäischen Politik der inneren Sicherheit mangelt. Länderübergreifende Zusammenarbeit ist selten, statt die Ursachen der klandestinen Einwanderung nach Europa entschlossen an den Außengrenzen zu bekämpfen, kurbeln die Innenminister, bildlich gesprochen, die Zugbrücken ihrer eigenen nationalen Burgen hoch.

„Wäre symbolischer Verlust“

Die Kommission kann dem nur hilflos zuschauen. Worüber man nicht reden kann, daran muss man eisern vorbeisegeln: Dimitris Avramopoulos, EU-Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, hielt sich am Freitag in Luxemburg an diese Grundregel für Politiker in Erklärungsnot, als er mit der Frage konfrontiert war, was die Kommission mit den Anträgen der fünf Staaten und Frankreichs (wo seit den Terroranschlägen des Islamischen Staats der Ausnahmezustand herrscht) zu tun gedenke: „Wir werden das prüfen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Rechtlich könnte die Kommission ein scharfes Schwert führen und ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnen, wenn sie der Ansicht ist, dass ein Mitgliedstaat die Grenzen aus reiner Willkür dichtmacht. Praktisch allerdings wird das nie geschehen. Die Kommission prüfe die Anträge, hieß es am Freitag auf Anfrage der „Presse“ aus der Kommission. Sie könne im Fall der Fälle weitere Informationen von den Ministern einfordern.

Andres Anvelt, Estlands Innenminister und Vorsitzender des Ratstreffens, paraphrasierte einen Mark-Twain-Spruch: „Gerüchte über den Tod Schengens sind übertrieben. Das wäre symbolischer Verlust. Für viele Menschen repräsentiert Schengen all das, was gut ist an Europa.“ Doch er fügte hinzu: „Die Sicherheit unserer Bürger ist ein vorrangiger Faktor.“

AUF EINEN BLICK

Seit zwei Jahren betreiben die Schengen-Mitglieder Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen außerordentliche Grenzkontrollen. Begründet wurde das mit der löchrigen EU-Außengrenze Griechenlands. Am 11. November sollten diese Kontrollen auslaufen, doch die Staaten wollen sie nun verlängern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2017)

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