Frankfurter Buchmesse: Im Grusel der Gegenwart

 Margaret Atwood bei der Preisverleihung.
Margaret Atwood bei der Preisverleihung. (c) imago/epd (Heike Lyding)
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Margaret Atwood erzählte in ihrer Friedenspreisrede eine Geschichte über die politische Lage – inspiriert von den Brüdern Grimm.

Es war, als ertöne fein leise, aber zugleich mit so tröstlicher Sicherheit die Stimme der Vernunft, als Friedenspreisträgerin Margaret Atwood am Sonntagvormittag in der Frankfurter Paulskirche ihre Rede hielt; als würde die 77-jährige kanadische Autorin die weise Replik auf das aggressive Getöse liefern, das am Abend davor eine Halle der Frankfurter Buchmesse erfüllt hatte. Die Messe, immer auch ein Ort scharfer Wortgefechte, war am Samstag rund um einen geplanten Auftritt des Wiener Identitären Martin Sellner zum Schauplatz eines unfassbaren Schreigefechts geworden, das Demonstranten zur Verhinderung des Auftritts angefangen und Teile des zum Vortrag gekommenen Publikums erwidert hatten. Beendet wurde es trotz Anwesenheit des Buchmesse-Direktors Jürgen Boos erst nach über einer halben Stunde.

„Wir leben in einer absolut fantastischen Zeit“, hatte gleichzeitig ein paar Hallen weiter Dan Brown vor Tausenden von Zuschauern verkündet, „ich würde in keiner anderen leben wollen!“ Schön zu hören – aber Atwoods „Röntgenblick“ auf Mensch und Gesellschaft, den die Autorin Eva Menasse in ihrer Laudatio so hervorhob, ihre düstere Weltsicht bot am Wochenende angesichts der politischen Polarisierung mehr Haltegriffe. Atwood, die das Publikum in der Paulskirche zunächst auf Deutsch begrüßte – „Bitte verziehen Sie mein Deutsch“ – sprach von der Macht der Geschichten, die Menschen sich über ihre Gegenwart erzählen: von deren Macht, das Denken und Fühlen zu verändern, „zum Besseren oder zum Schlechteren“. Die Geschichte, die Atwood in Frankfurt erzählte, handelte von Wölfen, die mit Worten Kaninchen bestricken. Eine märchenhafte Geschichte, doch schlicht nur auf den ersten Blick. Atwood rühmte dabei Grimms Märchen, die „so clever, so fesselnd, so komplex, so gruselig, so vielschichtig, doch stets mit einer Endnote der Hoffnung“ seien; einer Hoffnung, „die einem das Herz bricht, weil sie so unwahrscheinlich ist“. Ohne diese Märchen hätte sie nie ihr Buch „Der Report der Magd“ schreiben können.

Atwoods 1985 veröffentlichter Roman über eine nach einer Nuklearkatastrophe totalitär gewordene Gesellschaft, in der Frauen als Gebärmaschinen dienen, hat eine Renaissance erlebt: Nach der Wahl Trumps und nicht zuletzt durch die heuer mit acht Emmys ausgezeichnete gleichnamige US-Serie. Sie habe das Buch 1984 in West-Berlin begonnen, sagte Atwood, und „plötzlich wirkt es nicht mehr wie eine weit hergeholte, dystopische Fantasie. Es ist nur allzu wahr geworden.“ Oft wird die Unterdrückung der Frau als das große Thema dieses Romans gesehen – ein Missverständnis, so Laudatorin Eva Menasse: Es gehe um Totalitarismus. Und dessen erste Opfer seien eben Frauen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2017)

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