Sowjetkino: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

„Zeit, voran!“: das Tauwetter-Themenstück zum sozialistischen Wettbewerb von 1965.
„Zeit, voran!“: das Tauwetter-Themenstück zum sozialistischen Wettbewerb von 1965. (c) Ö. Filmmuseum
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Die Filmmuseums-Retrospektive (die erste unter der Leitung von Michael Loebenstein) stellt Filme aus den Aufbruchs- und Tauwetterphasen Sowjetrusslands gegenüber - und erzählt so vom Bröckeln kommunistischer Idealbilder.

Das Massenkino jeder Epoche dient – bewusst oder unbewusst – der Mobilisierung von Sehnsüchten. Die Frage ist nur, worauf sich diese Sehnsüchte richten. Heute sind es oft Kategorien wie Freiheit, Selbstverwirklichung und persönliches Glück. In Russland vor knapp hundert Jahren war es der Traum von einer besseren Welt. Nach einer endlosen Serie von Unruhen und gescheiterten Aufständen, nach Jahren der Kriegsnot und der politischen Unsicherheit hatte die Februarrevolution 1917 zur Beendigung der Zarenherrschaft und einer doppelköpfigen Verwaltung durch Übergangsregierung und Sowjets geführt. Schon ein halbes Jahr später folgte der nächste Umsturz: Am 25. Oktober (bzw. am 7. November nach gregorianischer Zeitrechnung) rissen Lenin und die Bolschewiki die Macht im Land an sich – und führten selbiges in einen blutigen Bürgerkrieg. Auf dessen Trümmerfeldern sollte eine gerechte Gesellschaft entstehen. Stattdessen entstand eine Diktatur, die spätestens unter Josef Stalin zum Menschheitsverbrechen ausartete.

Treffender Titel: „Utopie und Korrektur“

Das Kino der Zeit ließ die Hoffnung nicht fahren – auch, weil das zumeist verboten war. Dennoch spiegelt die Filmgeschichte Sowjetrusslands auf faszinierende Weise seine Ideale und Verwerfungen wider: Sie erzählt vom genuinen Glauben an die kommunistische Fantasie wie von ihren Enttäuschungen und Anpassungen. Insofern ist „Utopie und Korrektur“, der Titel der heurigen Viennale-Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums, treffend gewählt. Für seine erste große Schau (bis 30. 11.) hat der neue Museumsdirektor, Michael Loebenstein, zwei externe Kuratoren zurate gezogen – vielleicht ein Zeichen der verstärkten Öffnung gegenüber Außenperspektiven im Vergleich zu seinem Vorgänger Alexander Horwath. Die beiden Experten – Naum Kleiman, verdienter Filmhistoriker und langjähriger Leiter des Moskauer Filmmuseums, und sein Enkel Artiom Sopin – haben jedenfalls hervorragende Arbeit geleistet.

Ganz im Sinne der konstruktivistischen Montagetheorie Sergei Eisensteins, die sich Erkenntniseffekte von der Gegenüberstellung widersprüchlicher oder korrelierender Filmbilder erhoffte, paart die Schau an jedem Abend zwei Leinwandwerke aus unterschiedlichen Perioden der sowjetischen Historie: Eins aus der Aufbruchsphase zwischen 1926 und 1940 – und eins aus dem sogenannten „Tauwetter“ nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, als der Große Terror ansatzweise anerkannt und die Zügel der Zensur etwas gelockert wurden. Gezeigt wird viel Seltenes, durchwegs auf 35mm. Jedes Doppelprogramm folgt einem inhaltlichen oder ästhetischen Leitmotiv – und kehrt so hervor, wie sich die Wunschvorstellungen von einst den Gegebenheiten der Gegenwart angleichen mussten (oder umformuliert wurden).

Die früheren Filme strotzen oft nur so vor Agit-Prop-Enthusiasmus: In avantgardistischen Schnittgewittern verschmelzen hier Mensch und Maschine, Plansolls werden erfüllt, soziale Probleme in Angriff genommen und gelöst. Es gab wohl keine Filmgeschichteära, in der Forschung, Arbeit und Industrie so positiv konnotiert waren, in der Kräne und Baugerüste so deutlich zum Laufbildfetisch erhoben wurden und die Gesichter in Großaufnahme strahlten wie Stahl in den Hochöfen. Doch zuweilen leistete sich selbst das Propagandakino Freud'sche Versprecher.

In „Die Taten und die Menschen“ etwa meldet sich die müde Arbeiterschaft erst dann zur Weiterbildung, als sie von einem diffamierenden US-Zeitungsartikel erfährt: Nationalstolz war schon immer eine zentrale Treibfeder der russischen Seele. „Zeit, voran!“, das äquivalente Tauwetter-Themenstück zum sozialistischen Wettbewerb, porträtiert eine nicht minder begeisterungsfähige Volksmasse; doch der virtuosen Inszenierung wuselnder, unermüdlich geschäftiger Betonproduktion im Südural haftet auch etwas Verstiegenes, Wahnhaftes, aus den Fugen Geratenes an – und der Film deutet die Opfer an, die manch eine Einzelperson im Zuge solch übermenschlicher Anstrengungen bringen musste.

Komplette Desillusionierung

Anderswo weicht Optimismus kompletter Desillusionierung. „Der Weg ins Leben“ (als erster sowjetischer Tonspielfilm auch im Ausland erfolgreich) berichtet mit großer formaler Experimentierfreude von der Gründung einer Straßenkinderkommune. 40 Jahre später schildert „Viktor Krochins zweiter Versuch“ von Igor Šešukov den Aufstieg eines Jungdelinquenten zum Boxmeister – und zeichnet die Nachkriegszeit als triste Ellbogengesellschaft voller versehrter Verlierer und zynischer Macher. 1977 gedreht, kam das Drama erst 1987 in die Kinos: Die alten Garden, die man im Musical „Die Karnevalsnacht“ (1956) noch frohgemut verballhornt hatte, hatten sich wieder Verbotsgewalt verschafft. Aber sogar Šešukovs Film lässt am Ende einen Hoffnungsfunken flackern. Trotz aller Korrekturen blieb die Utopie am Leben – bis zum endgültigen Zusammenbruch. Und im teils verklärenden, teils melancholischen Licht des Kinos ist man wiederholt versucht, ihr anheimzufallen; auch, weil die zeitgenössische Filmlandschaft das Utopische nur noch vom Hörensagen kennt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2017)

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