Migration

Nordafrika-Staaten: Die Wächter an den Toren Afrikas

Warten auf die Überfahrt nach Europa: Die EU macht die Beziehungen zu nordafrikanischen Ländern zunehmend von der Kooperation in der Migrationspolitik abhängig.
Warten auf die Überfahrt nach Europa: Die EU macht die Beziehungen zu nordafrikanischen Ländern zunehmend von der Kooperation in der Migrationspolitik abhängig. (c) EPA (CIRO FUSCO)
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Die EU fordert von den nordafrikanischen Staaten zunehmend Wirtschaftsreformen ein, verbunden mit mehr Kooperation in der Flüchtlingspolitik.

Wien. Zu den ersten Nachbarschaftsbeziehungen der EU zählen die nordafrikanischen Staaten. Als 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläufer der EU, gegründet wurde, gab es in einem Annex-Protokoll zu den Römischen Verträgen einen interessanten Passus über die „privilegierten ökonomischen Beziehungen“, die Marokko und Tunesien mit Frankreich haben sollen. Sechs Jahre später verlangten die beiden Staaten schon die Aufnahme von Assoziierungsabkommen mit der EWG. Und der dritte Maghreb-Staat, Algerien, 1962 nach blutigen Kämpfen unabhängig geworden, schloss sich bald den Forderungen an. Zwar dauerte es noch einige Jahre, bis erste Assoziierungsverträge unterzeichnet wurden, aber es zeigt, wie früh die EU Nordafrika in ihre Nachbarschaftsstrategien eingebunden hat.

Das hatte wesentlich mit den jeweiligen Kolonialbeziehungen zu tun. So war die Wirtschaft von Tunesien und Marokko eng auf Frankreich ausgerichtet, und daher wollten Tunis und Rabat auch weiter einen erleichterten Zugang zu diesen Absatzmärkten für ihre Agrarprodukte. Algerien wiederum, wo das riesige Erdölpotenzial eine wichtige Rolle spielt, wollte die engen Wirtschaftsbeziehungen zu seiner früheren Kolonialmacht Frankreich weiter aufrechterhalten – und vice versa.

Enge historische Kontakte

Tripolis wiederum war in der Geschichte eng mit Italien verbunden, und Rom hatte – auch nach der Selbstständigkeit Libyens – großes Interesse an den Agrarprodukten der Region. Ägypten wiederum, das lange Zeit unter britischem Einfluss stand, war für Europa besonders wegen seiner Größe und strategischen Lage interessant.

Die ersten bilateralen Wirtschaftsabkommen mit der EWG wurden Ende der 1960er-Jahre abgeschlossen. Damit erhielten die Maghreb-Staaten Zollfreiheit für bestimmte Waren, besonders Erdöl und Textilprodukte. Für die meisten Agrarprodukte mit Ausnahme von Zitrusfrüchten galten dagegen hohe Zölle. Ende der 1970er-Jahre wurden die Abkommen erweitert, die Maghreb-Staaten erhielten nun Wirtschafts- und Finanzhilfen, zugleich endete die Zollfreiheit für Textilien und Erdölprodukte.

In den 1990er-Jahren wurden die Beziehungen zu Nordafrika immer wichtiger. Im Rahmen des 1995 gestarteten Barcelona-Prozesses (enge Kooperation der EU mit allen zwölf Mittelmeer-Anrainern) wurden Assoziierungsabkommen angepeilt bzw. abgeschlossen. Doch im Gegensatz zu den Verträgen mit den osteuropäischen Ländern enthielten diese Abkommen schon damals keine Perspektive für einen Beitritt zur EU.

Was Nordafrika betraf, wuchsen aber in Europa bald die Bedenken, denn trotz Hilfen und wirtschaftlicher Kooperationen entwickelten sich die Ökonomien des Maghreb nicht so gut wie erwartet und zudem stand es mit Demokratie und Menschenrechten nicht zum Besten. Was die Wirtschaft betrifft, war und ist Algerien ein negatives Beispiel. Durch seine Ölvorkommen wäre es eigentlich ein reiches Land, aber davon profitiert nur eine kleine Nomenklatura. Bürokratie und Korruption beherrschen das politische Leben und hemmen wirtschaftliche Entwicklungen. Das Ergebnis: Hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter jüngeren Menschen, die als Folge nichts anderes wollen, als nach Europa zu migrieren.

Die EU hielt dennoch an den Staatsführungen Nordafrikas fest, unter anderem deshalb, weil sie mithalfen, das langsam wachsende Problem der aus Afrika kommenden zahlreichen Migranten in den Griff zu bekommen. Vor allem Marokko spielt seither eine führende Rolle als Wächter für die EU.

„Zu viel Menschenrechte“

Ein besonderer Fall ist Libyen. Jahrelang waren die Beziehungen der EU mit Tripolis wegen Gaddafis Rolle beim Lockerbie-Bombenanschlag (eine mithilfe Libyens an Bord geschmuggelte Bombe hatte 1988 einen Jumbojet der PanAm über Schottland zum Absturz gebracht) eingefroren. 2004 wurde mit Gaddafi wieder offiziell geredet, doch seine Missachtung der Menschenrechte und sein diktatorisches Verhalten riefen Kritik hervor. Dass ihm das nicht passte, sprach Gaddafi ganz offen aus. 2010 sagte er in einer Rede beim Afrika-Gipfel: „Europa redet zu viel über Menschenrechte. Afrika aber braucht keine Politik, nur Wirtschaft.“

Im Dezember 2010 brachen in Tunesien heftige Proteste gegen die Regierung aus, der Arabische Frühling begann und griff bald auf andere Staaten über. Die EU distanzierte sich schnell von den einstigen Verbündeten und verlangte demokratische Reformen. Die Bilanz dieses Frühlings ist ernüchternd: Lediglich Tunesien schaffte halbwegs den Übergang in eine demokratische Zukunft, wenn auch die wirtschaftliche Lage kaum besser wurde. An Algeriens gerontokratischer Führung sind die Proteste weitgehend vorübergegangen, ebenso an Marokko, wo der König durch einige rasche Reformen den Demonstranten den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Und auch in Ägypten, wo das Volk einen Muslimbruder zum Präsidenten machte, war es 2013 wieder mit der Demokratie vorbei: Das Militär übernahm die Macht.

Seit damals werden EU-Hilfen und Abkommen mehr als früher an Reformen in dem Land gebunden. Doch bald rückte das Flüchtlingsthema in den Vordergrund, und Brüssel wertet Beziehungen und Unterstützung für Nordafrika seither vor allem unter dem Aspekt der Migrationspolitik: Gibt es Rücknahmeabkommen, besteht Bereitschaft für die Schaffung von Auffangzentren? Das Problem für Brüssel: Nordafrika ist kein homogener Block, jedes einzelne Land hat unterschiedliche Interessen in Europa – und umgekehrt. Dazu kommt, dass diese Länder untereinander oft zerstritten sind, wie das Beispiel Marokko und Algerien zeigt.

Der aktuelle Stand der Beziehungen: Mit Marokko funktioniert die EU-Kooperation derzeit ganz gut, wohl auch, weil das Land in der Eindämmung der Flüchtlingsströme sehr effektiv ist. Wirtschaftlich gab es vor einigen Monaten ein schweres Zerwürfnis, weil die EU nach Rabats Meinung die Handelsabkommen vor allem im Agrarbereich und in der Fischerei nach Gutdünken interpretiere, so der Vorwurf.

In Algerien versucht die EU wiederum, dringend notwendige Wirtschaftsreformen anzutreiben und verspricht Hilfe bei der Modernisierung. Wie in allen nordafrikanischen Ländern ist auch hier eines der Hauptprobleme die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit. Mit Ägypten wurde erst vor einigen Wochen im Zuge des Assoziationsrates zwischen den beiden Staaten eine engere wirtschaftspolitische Zusammenarbeit für die nächsten drei Jahre fixiert. Ziel dieser Partnerschaft ist wirtschaftliche und soziale Stabilität im Land am Nil.

Das große Problemland ist Libyen. Zwar wurde dort während des Arabischen Frühlings das Gaddafi-Regime mit internationaler Hilfe, vor allem Frankreichs, hinweggefegt. Aber nicht das Volk übernahm die Geschicke des Landes, sondern einzelne Milizen mit jeweiligen Eigeninteressen. Bis heute. Daher hat die EU derzeit fast nur politisch-militärische Abkommen abgeschlossen, und diese stehen durchwegs unter dem Flüchtlingsaspekt. So erhält Tripolis viel Geld für den Aufbau einer effektiveren Küstenwache. Doch angesichts der Tatsache, dass sich das Herrschaftsgebiet der libyschen Regierung gerade um die Hauptstadt erstreckt, ist dies eine extrem fragile Politik.

AUF EINEN BLICK

Die Beziehungen Europas zu den nordafrikanischen Staaten (hier: Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten) gehen weit in der Geschichte zurück. Entsprechend früh begannen auch die ersten Kontakte mit der EWG. Trotz Wirtschaftskooperationen und enger werdender Beziehungen wurde diesen Ländern nie die Perspektive eines Beitritts angeboten. Mit dem Arabischen Frühling und dem immer virulenter werdenden Flüchtlingsthema hat Brüssel die Schwerpunkte der Nachbarschaftspolitik zu diesen Ländern geändert: Finanzielle Hilfe wird verstärkt an Reformen und an die Bereitschaft gebunden, in der Migrationspolitik zu kooperieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)

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