Interview

Johannes Hahn: „EU hat definitiv keine Expansionsgelüste“

Johannes Hahn will einen Gürtel des Wohlstands und der Stabilität rund um Europa schaffen.
Johannes Hahn will einen Gürtel des Wohlstands und der Stabilität rund um Europa schaffen.(c) Michele Pauty (Michele Pauty)
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Interview. EU-Kommissar Johannes Hahn fühlt sich von Moskau missverstanden und fürchtet neue Fluchtwellen aus der EU-Nachbarschaft.

Die Presse: Sie sind in der EU-Kommission für die Nachbarschaftspolitik zuständig. Wie definieren Sie Ihre Zielsetzung?

Johannes Hahn: Meine Vision für die östliche wie für die südliche Nachbarschaftspolitik ist es, einen Gürtel des Wohlstands rund um Europa zu schaffen. Wir benötigen das, weil wir gegenwärtig ein großes Wohlstandsgefälle haben. Polen und die Ukraine hatten zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs etwa dasselbe Niveau. Heute ist der polnische Wohlstand drei- bis viermal höher. Das ist für gutnachbarschaftliche Beziehungen nicht förderlich. Es geht auch darum, dass die Bevölkerung in unserer Nachbarschaft eine Perspektive bekommt, damit sie in ihrer Region bleibt und nicht in die EU immigrieren. Wir haben heute in diesen Ländern rund um die Union 20Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Beispielsweise gibt es allein in der Ukraine 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge.

Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Geht es der EU so wie manchen Wohnungsbesitzern, dass sie sich mit einigen ihrer Nachbarn abmühen muss, während es mit anderen automatisch gut läuft?

Das muss man professionell sehen. Wenn ich den Anspruch habe, rund um die EU langfristig Stabilität zu schaffen, dann darf ich mir keine persönlichen Neigungen zugestehen. Auch im Alltag gibt es natürlich Nachbarn, mit denen man ein besseres Verhältnis hat, mit anderen weniger. Am Ende des Tages ist man aber gut beraten, mit allen ein gutes Auskommen zu finden.

Die EU lässt sich die Nachbarschaftspolitik mit einem Budget von 15,4MilliardenEuro (2014–2020) einiges kosten. Doch kann Geld allein helfen, das Verhältnis zu verbessern?

Dieses Geld kann schon etwas bewirken. Vor allem, wenn es mit anderen Finanzinstrumenten gehebelt wird. Wir arbeiten auf meine Initiative seit zwei Jahren mit internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank, dem Währungsfonds oder arabischen Partnerbanken zusammen. Neben dem Geld gibt es natürlich weitere Möglichkeiten, die Situation zu verbessern, die allerdings davon abhängen, welche besonderen Beziehungen ein Land zur EU wünscht. Eine Möglichkeit ist die Visaliberalisierung, eine andere ein umfangreiches Freihandelsabkommen. Oft sind es auch maßgeschneiderte Lösungen, die jeweils an Konditionen geknüpft sind. Wir haben beispielsweise Tunesien geholfen, den Olivenölexport nach Europa zu steigern.

Ein Pfeiler der Partnerschaft sind die Assoziierungsabkommen. Am Beispiel der Ukraine wurde aber deutlich, dass solche umfassenden Abkommen von Drittländern – in diesem Fall Russland – als Ausweitung der europäischen Einflusssphäre empfunden werden. Spielen Expansionsgelüste der EU tatsächlich eine Rolle?

Definitiv nicht. Wir respektieren territoriale Souveränität. Ich wache in der Früh nicht auf und schaue auf die Landkarte, suche Länder, die noch nicht dabei sind. Dem ist ja nicht so. Viele dieser Länder suchen eine stärkere Anbindung, weil für viele ihrer Bürger offensichtlich ist, dass in der EU die Lebensbedingungen besser sind. Dem können und wollen wir uns nicht widersetzen. Moralisch haben diese Menschen genauso einen Anspruch auf ein gutes Leben wie EU-Bürger. Aus europäischer Sicht ist das natürlich auch ein attraktiver Markt, der bisher unterentwickelt ist. Das öffnet eine Win-win-Situation. Und wir gewinnen vor allem Stabilität. Dass solche Überlegungen beim Nachbarn unserer Nachbarn – in Russland – noch nicht angekommen sind, hängt vielleicht mit der dortigen Mentalität zusammen, die auch ihre historische Begründung hat. Moskau will Einfluss auf die Territorien um das eigene Land haben, damit die eigene Sicherheit gewährleistet ist. Hier geht es um unterschiedliche Sicherheitskonzepte. Denn für die EU basiert eine Partnerschaft auf strengen Kriterien und natürlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

Die EU bemüht sich zur Eindämmung der Migrationswelle um eine Kooperation mit nordafrikanischen Ländern. Inwieweit ist es überhaupt möglich, mit Ländern wie Libyen eine Partnerschaft aufzubauen, in denen es keine stabile Regierung gibt?

Die aktuelle Lage mit den Flüchtlingen ist erwartbar gewesen, wenn auch nicht in dieser Dimension. Wenn Sie sich die Bevölkerungsentwicklung in den Herkunftsländern oder den fortschreitenden Klimawandel ansehen, wird klar, dass dies die großen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts bleiben. Deshalb ist es sinnvoll, auch mit den Herkunftsländern Kooperationen aufzubauen. Die EU muss mithelfen, die Perspektive für die Bevölkerung in deren Heimat zu verbessern, dann wird sich auch die Migration reduzieren. All das, was zum Beispiel jetzt migrationsbedingt in Libyen passiert, betrifft ja nur die Oberfläche und greift zu kurz. Eine nachhaltige Lösung für Transitländer wie Libyen wird es nur durch Stabilisierung geben. So versuchen wir in Libyen zum Beispiel mitzuhelfen, dass die Grundversorgung– also Elektrizität, Gesundheitsversorgung, Wasser, Abwasser, Müll etc. – wieder funktioniert. Dafür gibt es eine Zusammenarbeit auch mit lokalen Strukturen. Wir unterstützen zudem die Initiativen der UNO, die politische Stabilität im Land wiederherzustellen und Wahlen zu ermöglichen. Der politische Stabilitätsprozess muss demokratisch und inklusiv sein. Größeres Kopfzerbrechen bereitet mir allerdings mittel- und langfristig Ägypten.

Warum?

Weil Ägypten ein tägliches Bevölkerungswachstum von 7000 Menschen hat. Pro Jahr sind das zwei Millionen Menschen mehr. Das ist auf Dauer nicht haltbar.

Erwarten Sie einen neuen Migrationsdruck aus diesem Land?

Ja, das ist ein immanentes Risiko vor unserer Haustür.

Gibt es vonseiten der EU bereits Maßnahmen, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?

Ich versuche, zwischen den relevanten Geberländern zu vermitteln, damit wir gemeinsam in Kairo auftreten können. Die EU gibt dem Land gerade einmal 100 Millionen Euro pro Jahr. Damit können wir dort keine große Änderung herbeiführen. Gleichzeitig werden Projekte in Ägypten mit Krediten und Hilfen von europäischen Staaten und Finanzinstituten in der Höhe von circa 11,5 Milliarden Euro unterstützt. Wenn es gelingt, dieses Geld politisch zu poolen, können wir sicher mehr bewegen. Letztlich hängt das Bevölkerungswachstum auch mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zusammen. Deshalb braucht es beispielsweise in diesem Bereich Reformen.

Sie sind nicht nur für Nachbarschaft, sondern auch für Erweiterung zuständig. Kann man das überhaupt trennen, oder ist die größte Motivation für Reformen der Beitritt?

Wir müssen bei der Herangehensweise zwischen den Westbalkanstaaten, der Türkei und weiteren Nachbarstaaten differenzieren. Der Westbalkan ist von EU-Mitgliedstaaten umgeben, und es ergibt aus verschiedenen Gründen Sinn, dass diese Länder einmal Mitglied der Union werden. Alles andere sind Länder, die geografisch in der Nachbarschaft der EU liegen. Daher gibt es auch andere Herangehensweisen und unterschiedliche Interessen.

Stichwort Türkei: Ankara hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter von der EU entfernt, dennoch bleibt es Beitrittskandidat. Hat das überhaupt noch Sinn?

Die Türkei ist aus europäischer Sicht ein wichtiger Nachbar. Es kann und darf uns nicht egal sein, in welcher Verfasstheit sich dieses Land politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich befindet. Die eigentliche Problematik ist, dass die Türkei ein Kandidatenland ist und als solches akzeptieren muss, dass wir es an den höchsten Standards messen – besonders im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte. Diese Kriterien sind nicht verhandelbar, das produziert Spannungen. Die EU hat auf die Situation in der Türkei reagiert: Es gibt einen Beschluss auf EU-Ebene vom Vorjahr, keine weiteren Kapitel zu eröffnen. Und beim jüngsten EU-Gipfel wurde der Kommission das Mandat erteilt, die Heranführungshilfe für die Türkei an die politische Realität im Land anzupassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)

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