Kein Kollektivvertrag mehr ohne Kammern?

AK-Direktor Christoph Klein.
AK-Direktor Christoph Klein.(c) Michaela Bruckberger
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Das Ende der Zwangsmitgliedschaft bei Wirtschafts- und Arbeiterkammer bringe auch die Kollektivverträge in Gefahr, warnen manche Ökonomen. Doch ein Blick über die Grenzen des Landes zeigt: Es geht auch ohne Zwang.

Wien. Die Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ sind noch gar nicht richtig gestartet, da bringen die ersten „Reformverlierer“ schon ihre Verteidigungsbollwerke in Stellung. Mit dem drohenden Ende der Pflichtmitgliedschaft bei Wirtschafts- und Arbeiterkammer stünden auch die Kollektivverträge vor ihrem Aus, warnen AK-Direktor Christoph Klein und Rolf Gleisner von der Abteilung Sozialpolitik der Wirtschaftskammer. Aber nicht nur die Hauptbetroffenen, auch Wifo-Ökonom Thomas Leoni rechnet mit steigendem Druck auf die Kollektivverträge im Land, sollte sich die FPÖ mit ihrer Forderung nach einem Ende des Kammerzwangs durchsetzen. Gemeinsam mit den Neos, die seit Jahren gegen die gesetzliche Zwangsmitgliedschaft kämpfen, hätte eine Koalition aus ÖVP und FPÖ die dafür nötige Zwei-Drittel-Mehrheit beisammen.

Anders als in den meisten anderen Staaten können es sich die 3,4 Millionen Angestellten und die gut 500.000 Unternehmen in Österreich nicht aussuchen, ob und bei welcher Interessenvertretung sie Mitglied sein wollen. Die Wirtschaftskammer kassiert so mit ihren Teilorganisationen rund 900 Millionen Euro von ihren Mitgliedern. Die Arbeiterkammer kommt auf jährliche Einnahmen von über 430 Millionen. Beide Organisationen mussten sich in der Vergangenheit den Vorwurf der indirekten Parteienfinanzierung gefallen lassen. In jedem Fall seien Wirtschafts- und Arbeiterkammer zu eng mit ÖVP bzw. SPÖ verflochten, kritisiert etwa Neos-Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn. Ausnahmen vom Kammerzwang gibt es kaum: Nur die Beamten sind von der Pflichtmitgliedschaft bei der AK „befreit“.

Warum aber sollte das Ende der Pflichtmitgliedschaft die Kollektivverträge im Land zerstören? Schließlich ist Österreich mit diesem System europaweit schon heute die große Ausnahme. So gibt es in einzelnen Staaten (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, Luxemburg, Kroatien, Niederlande) zwar gesetzlich vorgeschriebene Kammermitgliedschaften. Die Kollektivverträge handeln dort aber freiwillige Verbände aus. Selbst in Österreich verhandelt auf Arbeitnehmerseite die Gewerkschaft und nicht die Arbeiterkammer.

98 Prozent haben Kollektivverträge

AK und Wirtschaftskammer argumentieren damit, dass die Unternehmen durch die Kammerpflicht an die Kollektivverträge gebunden seien, die von den Fachverbänden ausgehandelt würden. Wer austreten dürfe, könne auch den Kollektivvertrag aushebeln, so die Logik. Heute (aktuellste OECD-Zahlen aus 2013) arbeiten in Österreich 98 Prozent aller Arbeitnehmer nach Kollektivvertrag. Das ist ein Spitzenwert in Europa. Nur Frankreich schafft Vergleichbares – allerdings ohne das Zutun gesetzlich verpflichtender Kammern. Entscheidend sei nicht die Stärke der Gewerkschaften, sondern der Organisationsgrad der Arbeitgeber, erklärt Wifo-Experte Leoni.

Ohne Pflichtmitgliedschaft bei der Wirtschaftskammer seien die 98 Prozent in seinen Augen nicht zu halten. Nicht, dass es ohne Kollektivverträge nicht ginge: In Deutschland sank die Quote von 85 Prozent in den 1990er-Jahren auf 58 Prozent – dennoch gibt es wohl nur wenige Deutsche, die derzeit aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen wollen. Österreich habe die hohe Kollektivvertragsdurchdringung aber große Vorteile gebracht, sagt Leoni. Gerade Exportunternehmen bekämen diese „Produktivitätspeitsche“ kräftig zu spüren: Wer besser dastehe, könne sich das Lohnplus leisten. Andere müssten produktiver werden – oder vom Markt verschwinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)

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