It's Geography, Stupid! Wie die eigene Lage die Interessen der EU-Mitgliedstaaten prägt

Merkel und Putin: unterschiedliche Interessen im Osten Europas.
Merkel und Putin: unterschiedliche Interessen im Osten Europas.(c) APA/EPA/MAXIM SHIPENKOV/POOL (MAXIM SHIPENKOV/POOL)
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Die EU und ihre Nachbarn. Für Frankreich, Spanien und Italien hat die Stabilisierung Nordafrikas oberste Priorität, Polen und andere Osteuropäer wiederum wollen die Ukraine und Weißrussland als Puffer zwischen Europa und Russland etablieren.

Wien. Die politische Maxime, wonach Geografie Schicksal sei, gilt in Zeiten der Globalisierung und zwischenstaatlicher Kooperation eigentlich als überwunden – nicht zuletzt innerhalb der Europäischen Union, die ja als Gegenmittel zu territorialer Machtpolitik und dem Streben nach regionaler Dominanz gedacht war bzw. ist. Doch neue Strukturen ändern wenig an den alten Rahmenbedingungen – und das lässt sich auch bei der EU-Nachbarschaftspolitik beobachten. Denn die Prioritäten der Unionsmitglieder sind eng mit ihrer räumlichen Lage innerhalb der Union verknüpft. Das informelle Motto der Nachbarschaftspolitik lässt sich als Paraphrase des alten Wahlkampfslogans von Bill Clinton formulieren – „It's geography, stupid!“ anstatt von „It's the economy, stupid!“

Auf der europäischen Kompassrose befinden sich die Nutznießer der Nachbarschaftshilfe zwischen 90 und 180 Grad – also in einem Bogen zwischen Ost und Süd. Und dieser Nachbarschaftskompass korreliert auch mit der Interessenlage innerhalb der EU. Je östlicher ein Mitgliedstaat gelegen ist, desto mehr interessiert er sich für die östliche Nachbarschaft. Je südlicher das EU-Mitglied, desto mehr Energie wird für die Einbindung der Nachbarn im Süden aufgewendet. Je nach geografischer Lage werden die Partnerländer als Puffer, Stabilitätsanker oder Aspirant betrachtet – wobei sich diese Rollen naturgemäß überlappen.

Angst vor Moskau

Fangen wir also im Osten an. Der dominante Faktor, der die Beziehungen der EU-Mitglieder zu ihren Partnern in Osteuropa und im Kaukasus bestimmt, ist Russland. Den ehemaligen Satelliten der UdSSR, die 2004 der EU beigetreten sind, ist der große Nachbar im Osten nicht gänzlich geheuer. Seit dem Krieg mit Georgien 2008, und spätestens seit der Annexion der Krim 2014, werden die Sorgen der Osteuropäer im Westen nicht länger belächelt. Die östliche Dimension der Nachbarschaftspolitik zielt folglich darauf ab, aus der Ukraine sowie Weißrussland mittel- bis längerfristig einen „Cordon sanitaire“ zu formen, dessen unausgesprochene Hauptaufgabe es ist, Moskau auf Abstand zu halten. Große Hoffnungen ruhen im Zusammenhang mit der Ukraine auf dem umfangreichen Freihandelsabkommen, der Westausrichtung der ukrainischen Bevölkerung und der – theoretischen – Perspektive einer EU-Mitgliedschaft. Bei Weißrussland sind der EU die Hände durch die Tatsache gebunden, dass Präsident Alexander Lukaschenko als letzter Diktator Europas gilt – wobei der Langzeitherrscher seit Jahren darum bemüht ist, sich nicht Russland mit Haut und Haaren auszuliefern. Als Format zur Kontaktaufnahme dient die Östliche Partnerschaft, die 2008 auf Anregung des damaligen polnischen Außenministers, Radosław Sikorski, aus der Taufe gehoben wurde.

Das Pendant zur Östlichen Partnerschaft ist die ebenfalls 2008 etablierte Mittelmeerunion – die allerdings keine Neuschöpfung, sondern eine Weiterentwicklung des seit den 1990er-Jahren bestehenden Dialogformats Euro-mediterrane Partnerschaft ist. Vorangetrieben wurde der Mittelmeerpakt vom damaligen französischen Staatschef, Nicolas Sarkozy, der auf diese Weise den Interessen seines Landes zusätzliches Gewicht verleihen wollte. Denn für die drei großen EU-Mittelmeeranrainer Frankreich, Spanien und Italien ist nicht die östliche, sondern die südliche Nachbarschaft der Union von strategischer Bedeutung. Hier spielen mindestens drei Faktoren mit: erstens die historischen Bande mit ehemaligen Kolonien, zweitens das wirtschaftliche Potenzial und drittens die strategische Bedeutung. Der Wunsch nach regionaler Stabilität in Nordafrika wurde in Europa immer brennender, je tiefer der Nahe Osten ins Chaos rutschte, je brutaler der Islamische Staat seinen Feldzug gegen Andersgläubige führte – und je weiter das Tor nach Europa aufgrund des Zusammenbruchs staatlicher Strukturen aufging. In der Zwischenzeit bastelt die EU an einer Vielzahl von Maßnahmen, mit denen afrikanische Staaten dazu gebracht werden sollen, den Exodus ihrer Bürger in Richtung EU zu unterbinden.

Sorgenkind Türkei

Auch in Bulgarien und Griechenland dominiert die Geografie die Interessenlage – in diesem Fall liegt der Fokus allerdings auf der Türkei und den postjugoslawischen Westbalkanländern, die nicht Teil der Nachbarschaftspolitik sind, weil sie zum erlauchten Kreis der Beitrittskandidaten zählen – wobei dieser Status von beschränktem Wert ist, da die EU momentan weder fähig noch willens ist, Mitglieder aufzunehmen. Vor allem die Türkei hat sich unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Sorgenkind entwickelt. Athen und Sofia setzen ihre Hoffnungen darauf, dass die Beziehungen zur Türkei nicht vollends entgleisen – dann nämlich hätte die EU auch an ihrer südöstlichen Flanke eine offene Baustelle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)

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