Europas sanfter Imperialismus

Die Europäische Union hat sich von einem exklusiven Klub zu einer kontinental dominierenden Gemeinschaft entwickelt. Das macht sie für die Nachbarschaft mitverantwortlich – natürlich auch zum eigenen Nutzen.
Ein Dossier von: Wolfgang Böhm, Anna Gabriel, Michael Laczynski, Oliver Grimm, Jutta Sommerbauer, Gerhard Bitzan und Thomas Roser

Europa musste mehrere Schocks erleben, bevor es die Kraft fand, gemeinsam ein Gegenmodell zu Nationalismus und Imperialismus zu entwickeln. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg träumten Großbritannien und weitere Nationen wie Frankreich und Spanien von einer Weltmachtstellung. Die Expansionsgelüste trieben nicht nur den Kolonialismus voran, sondern auch die Konkurrenz unter den europäischen Staaten auf die Spitze. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Hälfte der Erdoberfläche in Kolonialbesitz.

Größe und Einflusssphäre schienen der einzige Maßstab für wirtschaftlichen und politischen Erfolg. Wer ausreichend Gebiete besaß, hatte ausreichend Rohstoffe, war wettbewerbsfähig gegenüber den europäischen Mitbewerbern. Andere Werte zählten nicht. Im Deutschland der 1930er-Jahre entwickelte sich dieser eindimensionale Expansionsgedanke, gepaart mit Rassismus, zum Größenwahn.

Nach den beiden Weltkriegen entstand in Europa ein friedliches Gegenmodell, das sowohl den Nationalismus als auch den Imperialismus durch gemeinsame Verantwortung aufzulösen versuchte. Die EWG aus sechs Mitgliedstaaten war ein exklusiver Klub, kein Instrument der Hegemonie. Lang zögerten denn auch Länder wie Frankreich, eine Erweiterung zu forcieren. Die Gemeinschaft zog durch ihren wirtschaftlichen Erfolg allerdings automatisch Länder an.

Diese Zurückhaltung zerbrach am Fall der Berliner Mauer. Denn mit einem Mal bot sich die historische Chance, fast den ganzen Kontinent für das Modell der Gründerstaaten zu gewinnen. Freiwillig traten viele der ehemals kommunistischen Länder bei. Um die Stabilität in den neuen Mitgliedstaaten, aber auch an den Rändern der EU abzusichern, wurde in den Jahren nach der Wende eine aktive Nachbarschaftspolitik geschaffen. Zum einen, um übergreifende militärische Konflikte zu verhindern, zum anderen, um mögliche Migrationsströme abzuwenden. Seit 2008 agiert die EU mit eigens geschaffenen Programmen in der östlichen und südlichen Nachbarschaft, motiviert zu demokratischen Reformen, leistet finanzielle Hilfe und unterstützt den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen.

Eine anerkannte Softpower

Die EU definiert sich als Softpower, die keine militärisch unterstützte Expansionspolitik betreibt. Die von ihr umgesetzten militärischen und zivilen Einsätze außerhalb des eigenen Gebiets dienen der Friedensschaffung und Friedenserhaltung. Für diese Funktion und ihre außenpolitische Zurückhaltung erhielt die EU internationale Anerkennung und 2012 sogar den Friedensnobelpreis.

Trotz dieser prinzipiellen Ausrichtung wäre es eine Übertreibung, diese Positionierung als selbstlos zu bezeichnen. Die Mitgliedstaaten haben eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine Nachbarschaftspolitik entwickelt, weil sie vor allem ihre wirtschaftliche Einflussphäre vergrößern wollen. Es geht hier auch um die Eroberung von Märkten.

Von der Überzeugung beseelt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, versucht die EU, ihr demokratisch-marktwirtschaftliches Modell den Nachbarregionen schmackhaft zu machen. Dieser sanfte Imperialismus funktioniert allerdings nur so lang, wie sie den Ländern auch ausreichend Anreize bis hin zu einem Vollbeitritt in Aussicht stellen kann. So wurden Länder des einstigen Jugoslawiens motiviert, Streitigkeiten untereinander (z. B. zur Unabhängigkeit des Kosovo) beizulegen. Mit der Erweiterungsmüdigkeit der EU reduziert sich dieser Motivationsfaktor aber zunehmend.

Ländern wie der Ukraine oder Georgien werden ein freier Marktzugang und erleichterte Einreisebestimmungen angeboten, aber bis auf Weiteres keine Vollmitgliedschaft. Es ist paradox: Obwohl die Instrumente der Gemeinschaft zur Anbindung der Nachbarn schwächer geworden sind, wird ihr Agieren heute kritischer gesehen. So sorgte die Unterstützung der Ukraine für einen offenen Konflikt mit Moskau. Der simple Grund ist, dass auch Russland Interesse an einer Absicherung wirtschaftlicher und politischer Einflusssphären hat.

Soll sich die EU also auf ihr eigenes Territorium konzentrieren, die eigenen Grenzen so dicht wie möglich machen, sich im Rest der Welt nicht mehr einmischen? In der innenpolitischen Debatte mehrerer Mitgliedstaaten wird das als Idealzustand dargestellt. Diese Debatte lässt aber außer acht, dass die EU keine Insel der Seligen ist. Sie ist eine global agierende Staatengemeinschaft, die ihre Interessen wahren und absichern muss, um sich in einer stark vernetzten Welt zu behaupten. Sie tut dies auf friedliche Weise und hat damit viele Sympathien gewonnen. Als Trutzburg des Wohlstands, die sich lediglich darum bemüht, dass andere an ihrem wirtschaftlichen Erfolg nicht partizipieren, würde sie nicht nur diese Sympathien verlieren. Sie hätte aufgrund ihrer Abhängigkeit von Rohstoffzulieferern und von handelspolitischen Lebensadern, die tief in die Nachbarschaft reichen, erhebliche Nachteile.

Die wachsende Zahl von Migranten, die nach Europa drängen, sollte die EU-Regierungen daran erinnern, dass es für sie am besten ist, wenn sich ihre Nachbarschaft positiv entwickelt. Es ist zwar vordergründig populär, diese Herausforderung als Nullsummenspiel darzustellen. Aber sie ist es nicht. Die EU muss keinen Wohlstand teilen oder abgeben, sondern sie kann durch den wachsenden Wohlstand ihrer Nachbarn nur profitieren.

Europa vertiefen

Dieses Dossier wurde von der "Presse"-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet. Es ist mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Europa und Äußeres (BMeiA) möglich geworden und daher auch frei zugänglich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)


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