Revolutionäre Küsse in Mexiko

Das Avantgarde-Duo Ricci/Forte brachte eine bildmächtige Performance nach Guanajuato.
Das Avantgarde-Duo Ricci/Forte brachte eine bildmächtige Performance nach Guanajuato.(c) Cervantino Festival
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In Guanajuato treffen sich Künstler aus aller Welt. Heuer gastierte dort unter anderem das Wiener Klangforum.

Alljährlich findet im mexikanischen Guanajuato das größte lateinamerikkanische Kulturfestival statt. Wenn man das in Europa selbst sehr kulturinteressierten und weit gereisten Freunden erzählt, erntet man Staunen: Guanajuato was? Und wenn schon ein großes Festival, wieso in einem solchen Provinzkaff? Der Hinweis darauf, dass ja Salzburg auch nicht gerade eine Großstadt sei, verfängt wenig. Also bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf den weiten Weg nach Mexiko zu begeben.

Guanajuato (der schwierig auszusprechende Name kommt vom aztekischen Quanaxhuata) ist etwa fünf Autostunden von Mexico City entfernt und liegt idyllisch in einem tief eingeschnittenen Bergtal. Der erste Eindruck überwältigt, vor einem breitet sich eine entzückende Kleinstadt mit bunten, in mindestens 100 verschiedenen Farbtönen angefärbelten kubischen Häusern aus. Reich wurde der Ort durch seine Silberminen, später hat man in Kultur investiert. Guanajuato trägt den Weltkulturerbestatus völlig zu Recht und ist doch keine pittoreske Touristenfalle, sondern eine lebendige Stadt (allein schon durch die vielen Studenten in einer der ältesten Unis Mexikos).

Seit 45 Jahren gibt es hier also dieses internationale Festival, das den Titel Cervantino trägt. Erklärung für den Namen: Aus dem Spanischen Bürgerkrieg hat sich ein Cervantes-Experte mit seiner Sammlung hierhergerettet. Das Festival ist ein klassisches „Supermarkt“-Festival, man kann auch „interdisziplinär“ dazu sagen. Es bietet von allem etwas: Ausstellungen, Diskussionen, Filmvorführungen, Ballette, Theaterstücke, klassische Musik, populäre Musik, Folkloretänze. Jedes Jahr wird ein Motto ausgegeben und ein anderes Land eingeladen. Heuer widmete man die Veranstaltung – anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der mexikanischen Verfassung – dem Thema „Revoluciones“. Zu Gast war Frankreich. Es gab unzählige Veranstaltungen, immer war etwas los, sogar auf den Straßen, was zu Verwechslungen führen konnte: Vor der Kathedrale war ein Zelt aufgebaut, in dem eine Gruppe von Personen einen Embryo aus Wachs verehrte. Manche hielten dies für die gelungenste Performance des Festivals, es handelte sich allerdings um echte Abtreibungsgegner.

Von den Veranstaltungen von überregionalem Interesse lassen sich drei hervorheben. Zunächst das Gastspiel des Wiener Klangforums im prachtvollen Teatro Juárez. Unter der Leitung von Bas Wiegers performte es zuerst ein paar seiner Klassiker von Salvatore Sciarrino und Iannis Xenakis. Der Clou kam nach der Pause: mit der Uraufführung von „Móvil, cambiante“ des in Mailand lebenden mexikanischen Komponisten Javier Torres Maldonado, einem Stück, das sich durch seine avancierte Recherche bezüglich des Verhältnisses zwischen Musikern, Instrumenten, Raum und Publikum auszeichnet.

Theater aus Italien und Frankreich

Im Theaterbereich war alle Aufmerksamkeit auf das Marathonspektakel „Ça ira 1 (Fin de Louis)“ des derzeit angesagten (im Akademietheater war seine „Wiedervereinigung der beiden Koreas“ zu sehen) französischen Autors und Regisseurs Joël Pommerat gerichtet. Pommerat beschäftigt sich darin über fünf Stunden lang mit der Anfangsphase der Französischen Revolution. Allerdings wurde ununterbrochen nur geredet, insgesamt ein wenig enttäuschend. Bildmächtig hingegen die Performance „Stil/Life“ des italienischen Avantgarde-Duos Ricci/Forte. Ausgehend vom Suizid eines homosexuellen Jugendlichen entwickeln die beiden einen sehr viel allgemeingültigeren Aufruf gegen Mobbing in allen Formen. Im Gedächtnis bleibt unter anderem das Finale, bei dem die Performer und Performerinnen ins Publikum stürmen und gleichgeschlechtliche Zuschauer auf den Mund küssen. Einziger Kritikpunkt: der Geschmack des Pfefferminzsprays, den sie sich nach jedem Kuss vermeinten, in den Mund sprühen zu müssen. Nächstes Mal bitte ohne . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2017)

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