Gastkommentar

Wir haben Hände, um Hände wegzuschieben

Wenn Frauen Opfer sexueller Belästigung werden, dürfen und müssen sie sich wehren.

Im Kindergarten meiner Tochter gab es einen Buben, der die Angewohnheit hatte, Mädchen zu umklammern und wie überdimensionierte Kuscheltiere mit sich herumzuschleppen. Als ich eines Tages wieder so einer Szene beiwohnte, fragte ich die Kindergartenpädagogin, weshalb sie denn nicht eingreife. Sie erwiderte, der Bub stamme aus einem sehr schwierigen Elternhaus, er habe einfach keine andere Möglichkeit, sich auszudrücken.

Ich wies sie darauf hin, dass das gerade umklammerte Mädchen sich vielleicht auch gerne „ausdrücken“ würde, etwa, indem es sich frei bewegen könne. Die Empathie der Pädagogin lag ausschließlich auf Seiten des Buben, vielleicht änderte sich das ein wenig, als ich sie auf das gequälte Gesicht des völlig überforderten Mädchens aufmerksam machte, das nicht wagte, sich zu wehren – durch die beständige Duldung der Erwachsenen war die Situation „normal“.

Ich hielt fest, dass meine Tochter von mir instruiert worden sei, sich gegebenenfalls mit allen Mitteln aus der Umklammerung zu befreien und dass ich mir von den Aufsichtspersonen erwarte, dass sie dabei unterstützt werde. Ob es mir gelang, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, weiß ich nicht, zumindest das unter meinem Protektorat stehende Mädchen war fortan vom Zwang, als Schmuseobjekt herzuhalten, befreit.

Nur ein Therapiemittel?

Ich glaube nicht, dass die Pädagoginnen den Buben auf Grund seines Geschlechtes bevorzugten. Vielmehr denke ich, dass es sich um die irregeleitete Vorstellung von einem sozialen Ausgleich handelte: Die „privilegierten“ Kinder aus netten Familien sollten dem armen Kind aus schwierigen Umständen als Therapiemittel zur Verfügung stehen. Dennoch wunderte es mich, dass in den frühen 2000er Jahren keine einzige der verantwortlichen Pädagoginnen, allesamt Frauen, der körperlichen Integrität eines Mädchens irgendeine Bedeutung beimaß. Das Recht, nicht angefasst zu werden – was war daraus geworden? Hätte man nicht noch zehn Jahre zuvor den Mädchen Mittel an die Hand gegeben, sich zu wehren?

Was mich an der #metoo-Kampagne zunehmend beunruhigt, ist ein Opfernarrativ, das Frauen durchgehend als passiv, ohnmächtig und handlungsunfähig zeigt. Dass hier schwere Sexualverbrechen etwa mit verbalen Entgleisungen in einen Topf geworfen werden, hängt unmittelbar damit zusammen. Ja, es gibt Situationen, in denen man sich nicht wehren kann. Aber wie kommt es, dass ausgerechnet die schwedische Gleichstellungsministerin erzählt, sie sei als junge Politikerin in einer Bar von einem hochrangigen EU-Politiker betatscht worden und habe sich dabei „dumm gefühlt“? Ohne zumindest den Zusatz, man könne in so einer Situation auch anders reagieren?

Es gibt das Phänomen der Schockstarre, es gab aber auch spätestens seit Mitte der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts viele Diskussionen darüber, wie man diese durchbrechen könnte. Darüber, dass man das Recht hat, sie zu durchbrechen, dass man sich nicht dumm fühlen muss, sondern dass sich gütigst der Betatscher dumm fühlen sollte.

Wir sind keine Dreijährigen

Dass man Hände hat, um Hände wegzuschieben, eine Stimme, um zu schreien, verbale Ausdrucksfähigkeit, um in die Schranken zu weisen, dass man Öffentlichkeit herstellen kann, darf und muss. Vor allem, wenn man sich, wie in einer Bar, schon in der Öffentlichkeit befindet. Wir sind keine dreijährigen Mädchen, die sich darauf beschränken müssen, verzweifelt dreinzuschauen, weil wir es nicht besser wissen und jeder findet, unsere Lage sei „normal“.

Ich möchte daher eine andere Geschichte erzählen. Einer Freundin von mir geschah es, dass auf einer Betriebsfeier ihr Chef leicht angesäuselt an sie herantrat, mit dem Zeigefinger ihr Dekolleté entlangfuhr und sagte: „Darf ich da mal hineinschauen?“ Ihr Reflex war, ihm sofort den kleinen Schluck, der sich noch in ihrem Sektglas befand, aufs Hemd zu schütten und laut zu rufen: „Greifen Sie mir nicht an die Brust!“ Nun, das war peinlich vor all den Leuten, aber vor allem für ihn und er entschuldigte sich sofort.

Am nächsten Tag kam er ausgenüchtert nochmals zu ihr und wiederholte formell seine Entschuldigung. Es gab nie wieder Probleme, meine Freundin blieb noch etliche Jahre in diesem Betrieb. Die Geschichte trug sich Anfang der Neunziger Jahre zu. Johanna Dohnal war Frauenministerin, seit 1993 galt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes. Hätte der betroffene Vorgesetzte sein Fehlverhalten nicht eingestanden, hätte es andere Mittel gegeben. Dennoch war es eine mutige Tat. Wir sind nicht alle Heldinnen, wir sind nicht immer geistesgegenwärtig und schlagfertig und schon gar nicht wollen wir uns in einem permanenten Nahkampf befinden.

Gesetze sind wichtig. Eigentlich ist es unfassbar, dass bis 2015 jeder Mann jeder Frau im öffentlichen Raum ungestraft auf den Hintern greifen durfte. 1989 wurden durch die Sexualstrafrechtsreform Vergewaltigung und geschlechtliche Nötigung in der Ehe oder Lebensgemeinschaft strafbar. Auch das ist Johanna Dohnal zu verdanken. 1989 war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Ich kann mich noch gut an die Debatten erinnern. Durfte sich der Staat wirklich in etwas so Privates und Intimes wie das eheliche Sexualleben einmischen?

War es nicht furchtbar, wenn unter den Betten, in denen Liebe, Lust und Freiheit herrschen sollte, quasi schon der Staatsanwalt hockte? Das Vertrauensverhältnis zwischen den Partnern würde zerstört werden, Männer würden Angst bekommen, sich ihren Frauen überhaupt noch zu nähern usw. usf.

Gesetze sind wichtig

Gesetze sind wichtig. Aus ihren abstrakten Paragrafenpalästen diffundieren sie in unseren Alltag und verändern – oft in kürzester Zeit – unser Bewusstsein. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass Vergewaltigung in der Ehe je erlaubt war – über das sprachlich-legistische Mittel, dass sie per definitionem gar nicht existierte. Dennoch sollte man nicht aus dem Auge verlieren, dass es bei weniger gravierenden Grenzüberschreitungen auch unmittelbare Handlungsmöglichkeiten gibt.

Wenn Dinge geschehen, die nicht geschehen sollten, sind dann Lähmung und Verstummen in der betreffenden Situation wirklich die einzige Handlungsoptionen? Kann man denn nicht einmal bei einer coram publico getätigten Anzüglichkeit eines Mannes etwas sagen, was ihn als das dastehen lässt, was er ist, nämlich eine Flasche? Wenn der Kellner eine versalzene Suppe bringt, beschweren wir uns, wenn sich an der Supermarktkassa jemand vordrängt, regen wir uns auf, aber wenn einer „Mäuschen“ zu uns sagt, erstarren wir vor Schreck wie dasselbe vor der Schlange? Im Opfernarrativ treiben Frauen durch den Fluss der Ereignisse wie Ophelia, schön und blumenumkränzt, aber zu tot, um noch einen Finger zu rühren.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN


Bettina Balàka (* 1966) ist Schriftstellerin und lebt in Wien. Zuletzt erschienen die Romane „Unter Menschen“ im Suhrkamp Insel Verlag und „Die Prinzessin von Arborio“ im Haymon Verlag. Dort erscheint im Frühjahr der Essayband „Kaiser, Krieger, Heldinnen. Expeditionen in die Gegenwart der Vergangenheit“, in dem es um österreichische Geschichte, auch Frauengeschichte geht. [ Kurt-Michael Westermann ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2017)

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