Wirtschaft besorgt nach Jamaika-Aus - "Demokratieschädlich"

APA/dpa/Bernd von Jutrczenka
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Schlamassel", "Tiefpunkt", "Enttäuschung": Die deutsche Wirtschaft spart nach dem Aus der Jamaika-Sondierungen für eine Regierungsbildung zwischen Union, FDP und den Grünen nicht mit Kritik an den beteiligten Parteien.

Die SPD steht nach den Worten ihres Vorsitzenden Martin Schulz für eine große Koalition nicht zur Verfügung. Die Wähler in Deutschland sollten die Lage nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen neu bewerten können, sagte Schulz am Montag in Berlin und fügte hinzu: "Wir scheuen Neuwahlen nicht." Damit bliebe für die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel nur noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung der Union entweder mit den Grünen oder mit der FDP. Dies aber gilt als sehr unwahrscheinlich. Merkel traf am Mittag mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen, der sich in Kürze öffentlich äußern will.

"Schlamassel", "Tiefpunkt", "Enttäuschung": Die deutsche Wirtschaft sparte nach dem Aus der Jamaika-Sondierungen für eine Regierungsbildung zwischen Union, FDP und den Grünen nicht mit Kritik. Sie befürchtet eine Verunsicherung, die Investitionen bremsen kann. Führende Verbände erinnerten die Parteien an ihre staatspolitische Verantwortung und forderten, rasch für stabile Verhältnisse in Deutschland zu sorgen. Top-Ökonomen rechnen aber nicht damit, dass der deutsche Aufschwung abrupt endet. An Europas Börsen drückten die Ereignisse in Berlin zeitweise die Stimmung. Größere Kursverluste blieben aber aus.

"Was für ein Schlamassel", sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Holger Bingmann, am Montag. Es scheine die Sehnsucht zu grassieren, die Oppositionsrolle statt den Gestaltungsauftrag anzunehmen. "Das ist geradezu demokratieschädlich." Nach diesem "Tiefpunkt" sollten sich alle Beteiligten 14 Tage Zeit nehmen, um sich zu besinnen.

"Es ist fatal und kein gutes Signal für Wirtschaft und Gesellschaft, dass die sondierenden Parteien nicht in der Lage waren, sich auf tragfähige Kompromisse zu verständigen, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen", kritisierte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Peter Wollseifer. "Damit haben die sondierenden Parteien Deutschland einen Bärendienst erwiesen." Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer mahnte: "Deutschland braucht eine stabile Regierung." Denn das Land und Europa ständen vor großen Herausforderungen. Sein Kollege vom Industrieverband BDI, Dieter Kempf, warnte ebenfalls, Deutschland brauche mehr als eine bloß geschäftsführende Regierung, um drängende Entscheidung im Lande und in Europa treffen zu können.

Wirtschaft sieht Chance vertan

Ähnlich äußerte sich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Das Scheitern sei eine Enttäuschung, werde doch damit eine Chance verpasst, ideologische Grenzen zu überwinden und sachgerechte Lösungen zu finden. "Deutsche Unternehmen müssen sich nun auf eine möglicherweise längere Phase der Unsicherheit einstellen", warnte er. "Das Ende der Sondierungen ist eine schwere Enttäuschung", meinte der Präsident des Bankenverbandes und Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter der Privatbank Berenberg, Hans-Walter Peters: "Jetzt geht wertvolle Zeit verloren, um Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Bildung und die Weiterentwicklung Europas schnell anzupacken".

Auch der Maschinenbauverband VDMA warnte: "Eine Hängepartie kann sich Deutschland in keiner Weise leisten." Der Verband "Die Jungen Unternehmer" sprach von einer "unprofessionellen Verhandlungsführung" aller Beteiligter, die ein schlechtes Licht auf Deutschland werfe.

Volkswirte bleiben zuversichtlich

Ein Ende des acht Jahre währenden Aufschwungs erwarten führende Volkswirte durch das Jamaika-Aus allerdings nicht. "Der daraus erwachsende volkswirtschaftliche Schaden dürfte gering sein, denn die Fundamentaldaten sind stark und die Konjunktur hat viel Rückenwind", sagte der Chefvolkswirt der Nordea Bank, Holger Sandte. Commerzbank-Chef Martin Zielke sprach zwar von einer "politisch schwierigen Situation", die es nun gebe. "Für die deutsche Wirtschaft bleibe ich aber zuversichtlich", fügte er hinzu. Die deutsche Wirtschaft werde stark bleiben. Der Chefvolkswirt seiner Bank, Jörg Krämer, äußerte sich ähnlich. "Natürlich ist die Unsicherheit Gift für die Wirtschaft", sagte er. Doch befinde sich Europas größte Volkswirtschaft in einer äußerst robusten Verfassung. "Die Wettbewerbsfähigkeit ist noch immer hoch, die lockere EZB-Politik facht die Nachfrage an."

Rufe nach neuen Jamaika-Anlauf

Wie es auf politischer Ebene nun weitergehen soll, darüber sind Experten uneins. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, sieht Chancen in einer Minderheitsregierung. "Das größte ökonomische Risiko besteht in der wachsenden Unsicherheit über den Kurs der Wirtschaftspolitik und die Stabilität der Regierung", sagte Fuest. "Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird." Die skandinavischen Länder und Kanada hätten mit Minderheitsregierungen oft gute Erfahrungen gemacht.

Der Präsident des Berliner DIW, Marcel Fratzscher, schreibt dagegen Jamaika noch nicht ab. "Noch sind hoffentlich nicht alle Stricke gerissen", betonte er. "Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen, für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg versprechen." Deutschland brauche eine handlungsfähige Regierung mit klaren Zielen und Visionen.

Das sagen Experten

CHRISTIAN VON ENGELBRECHTEN, FONDSMANAGER FIDELITY GERMANY FUND:

"Nach den geplatzten Jamaika-Sondierungen herrscht Unsicherheit vor. Für die Planung von Unternehmen ist dies immer negativ. Zwar läuft die Wirtschaft momentan noch sehr gut, allerdings ist das in den Rekordständen der Börsen bereits eingepreist. Eine Abschwächung im nächsten Jahr könnte daher konjunktursensible Zykliker belasten.

Die politische Unsicherheit kommt zu einem Zeitpunkt, an dem von globaler Ebene zunehmende Schwierigkeiten auf die deutsche Wirtschaft zukommen, zum Beispiel von einer Wachstumsverlangsamung in China. Ich erwarte daher, dass die Stimmungsindikatoren der Wirtschaft keine weiteren Rekordstände erreichen werden und dass das Wachstum 2018 schwächer ausfallen wird.

Solide wachsende Unternehmen, insbesondere aus den Bereichen Gesundheit, Technologie und Software, dürften daher wieder die Führung übernehmen – im Vergleich zu Unternehmen, die eine besonders positive Konjunktur für ihre schwachen Fundamentaldaten benötigen."

CLEMENS FUEST, IFO-PRÄSIDENT:

"Da auch Neuwahlen kaum grundlegend veränderte Mehrheiten bringen dürften, ist eine Minderheitsregierung wahrscheinlich. Für die Wirtschaftspolitik bringt eine Minderheitsregierung Risiken, aber auch Chancen. Das größte ökonomische Risiko besteht in der wachsenden Unsicherheit über den Kurs der Wirtschaftspolitik und die Stabilität der Regierung. Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird. Die skandinavischen Länder und Kanada haben mit Minderheitsregierungen oft gute Erfahrungen gemacht."

JAN BOTTERMANN, CHEFVOLKSWIRT NATIONAL-BANK:

"Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen heute Nacht ist die politische Unsicherheit in Deutschland sprunghaft angestiegen. Dies war etwa am Rücksetzer des Euro zu erkennen. Wir erwarten allerdings nicht, dass es zu einer veritablen politischen Krise beziehungsweise zu einem nachhaltigen Kurswechsel in der deutschen Politik kommt. Für die Märkte maßgeblich ist derweil das gute internationale Umfeld, die der deutschen Wirtschaft auch weiterhin ein kräftiges Wachstum bescheren wird. Die marktimpliziten Indikationen verweisen zumindest bislang darauf, dass die politische Entwicklung kaum Spuren an den internationalen Märkten hinterlassen hat."

HOLGER SANDTE, EUROPA-CHEFVOLKSWIRT NORDEA:

"Aus meiner Sicht sind Neuwahlen Anfang 2018 wahrscheinlicher als eine Minderheitsregierung - oder dass die SPD doch noch über ihren Schatten springt. Damit wird die politische Unsicherheit in Deutschland um einige Monate verlängert. Der daraus erwachsende volkswirtschaftliche Schaden dürfte gering sein, denn die Fundamentaldaten sind stark und die Konjunktur hat viel Rückenwind.

Auf den Finanzmärkten könnte der Euro moderat nachgeben. Die Finanzwelt wird aber nicht infrage stellen, dass Deutschland ein stabiler Anker der Währungsunion bleibt, egal unter welcher künftigen Regierung. Die Unsicherheit würde allerdings deutlich steigen, wenn Merkel über die ganze Sache stolpert, denn sie wird im Ausland als Stabilitätsgarant gesehen."

MARCEL FRATZSCHER, PRÄSIDENT DIW:

"Die Sondierungen zwischen den Jamaika-Parteien haben Deutschland wochenlang in Atem gehalten und sind trotzdem nicht zum Abschluss gekommen. Sehr überraschend ist es nicht, denn sie waren wenig mehr als ein Abstecken roter Linien und die Suche nach kleinsten gemeinsamen Nennern. Noch sind hoffentlich nicht alle Stricke gerissen. Die Jamaika-Parteien müssen einen neuen Anlauf machen, denn sie wissen, für keine von ihnen würden Neuwahlen Erfolg versprechen.

Deutschland braucht eine handlungsfähige Regierung mit klaren Zielen und Visionen. Diesmal müssen die Parteien bei ihren Gesprächen die wichtigen Herausforderungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik adressieren. Es soll um den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, um die Einhaltung der Klimaziele, um die Integration der Langzeitarbeitslosen und der Geflüchteten, um Digitalisierung, um eine Bildungsoffensive gehen."

JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLKSWIRT:

"Natürlich ist die Unsicherheit Gift für die Wirtschaft. Aber das Scheitern der Jamaika-Sondierungen kann für die Unternehmen kein Schock sein, nachdem sich die Verhandlungen quälende vier Wochen hingezogen hatten. Darüber hinaus befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer äußerst robusten Verfassung. Die Wettbewerbsfähigkeit ist noch immer hoch, die lockere EZB-Politik facht die Nachfrage an. Die Wirtschaft hat also so viel Schwung, weshalb sich die zahlreichen Probleme – von schlechten Straßen bis zum langsamen Internet – vorerst nicht bemerkbar machen. Ich rechne weiter damit, dass wir im kommenden Jahr eine Zwei vorm Komma beim Wirtschaftswachstum haben werden.

Der Euro ist zwar zum Dollar merklich, aber nicht dramatisch gefallen. Der französische Präsident Macron hofft, im Dezember von Deutschland Unterstützung zu bekommen für seine Vorstellungen zur Währungsunion. Ich glaube, eine derart geschwächte Kanzlerin wird einen solchen Kurswechsel – der in Deutschland überdies unpopulär ist – kaum vollziehen."

THOMAS ALTMANN, PORTFOLIOMANAGER QC PARTNERS:

"An der Börse heißt es jetzt Katerstimmung statt Jahresendrallye. Die Unsicherheit ist jetzt größer als nach der Wahl. Deutschland droht eine längere Hängepartie. Und Unsicherheit mögen die Börsen und die Anleger gar nicht. Sollte die SPD bei ihrem Nein zur Fortsetzung der GroKo bleiben, gibt es nur zwei Alternativen: Eine Minderheitsregierung oder sofortige Neuwahlen – beides ein Novum in der deutschen Politikgeschichte. Und beides mit jeder Menge Unsicherheit verbunden.

Neuwahlen sind aktuell der größte Risikofaktor, auch für die Börse. Hier wäre die Hängepartie am längsten. Zudem weiß keiner, wie Neuwahlen ausgehen und wie es danach weitergehen kann. Deutschland könnte für eine längere Zeit politisch gelähmt sein. Das ist eine schlechte Nachricht: Nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Euro-Zone und die gesamte EU." (Reporter: Rene Wagner und Hakan Ersen, redigiert von Till Weber - 

(Reuters)

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