Zurück an den Start: Merkel rüstet sich für Neuwahl

Wer regiert künftig im Berliner Bundeskanzleramt? Angela Merkel will darüber eher die Wähler noch einmal abstimmen lassen, als eine Minderheitsregierung zu wagen.
Wer regiert künftig im Berliner Bundeskanzleramt? Angela Merkel will darüber eher die Wähler noch einmal abstimmen lassen, als eine Minderheitsregierung zu wagen.APA/AFP/JOHN MACDOUGALL
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Nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition in Deutschland geht CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Offensive. Sie strebt eine Neuwahl an und steht als Spitzenkandidatin bereit.

Berlin. In einer solchen Lage hat sich die Bundesrepublik noch nie befunden. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte scheitert nach einer Wahl die Regierungsbildung. Deutschland steuert auf Neuwahlen zu. In Europa machte sich am Montag Nervosität breit angesichts der Aussicht, dass seine größte Wirtschaftsnation über Monate nicht geführt, sondern nur von einer Regierung kommissarisch verwaltet wird. Das Scheitern der vierwöchigen Sondierungen einer Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen ist eine der schwersten Niederlagen Angela Merkels in ihrer zwölfjährigen Kanzlerschaft.

Aber Merkel sieht man das nicht an, als sie am Montag zwei ihrer seltenen Fernsehauftritte absolviert. Ob sie Fehler gemacht habe? „Nein.“ Nach ihrer Auffassung seien die Verhandlungen auf der Zielgeraden gewesen. An Rücktritt habe sie nie gedacht. Es wirkte, als schöpfte sie Kraft aus der politischen Krise. Merkel machte deutlich, dass sie Neuwahlen anstrebe – falls es wie zu erwarten keine Koalitionsmehrheit gibt. Das wäre der „bessere Weg“ als eine Minderheitsregierung, sagte die Kanzlerin.

Deutschland brauche Stabilität, es habe „so viele Aufgaben zu bewältigen“. Zudem schreckte Merkel die Aussicht ab, dass eine Minderheitsregierung auch an den Stimmen der AfD hängen könnte.

Merkel will wieder antreten

Die Kanzlerin leitete in den TV-Auftritten auch ihre erneute Kandidatur ein. Sie sei bereit, „wieder Verantwortung zu übernehmen“, sagte Merkel demütig. Alles andere fände sie auch „sehr komisch“, nachdem sie im Wahlkampf zugesichert habe, das Amt der Bundeskanzlerin für weitere vier Jahre zu übernehmen. Man kann den Auftritt auch als Versuch deuten, jede mögliche Führungsdebatte im Keim zu ersticken. Der CDU-Vorstand hatte Merkel am Vormittag den Rücken gestärkt. Auch die Zeiten, in denen sich CDU und CSU beflegelten, sind vorbei. „Sie hat meine und unsere Unterstützung“, sagte CSU-Chef Horst Seehofer über ihre angestrebte Wiederkandidatur.

Die Kanzlerin hatte sich zuvor ins Schloss Bellevue begeben. Es ist die Stunde des Bundespräsidenten. So will es das Grundgesetz. Frank-Walter Steinmeier trat später mit ernster Miene vor die Presse. Das Wort Neuwahlen nahm er nicht den Mund. Noch immer war er entschlossen, alles zu unternehmen, um das zu verhindern. „Das ist der Moment, in dem alle Beteiligten noch einmal innehalten und ihre Haltung überdenken sollten“, sagte Steinmeier. Der Ex-SPD-Kanzlerkandidat redete den Parteien ins Gewissen: „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht davor drücken, wenn man sie in den Händen hält.“ Steinmeier zielte dabei auf die FDP, die vom Verhandlungstisch aufgestanden ist, aber auch auf seine Genossen.

SPD schließt Große Koalition aus

Die SPD-Führung hatte noch am Wahlabend unter großem Beifall ihrer Mitglieder angekündigt, in die Opposition zu gehen. Und kurz vor Steinmeiers Rede beschloss der SPD-Vorstand noch einmal, dass die Partei für eine Große Koalition nicht zur Verfügung stehe. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles erklärte in Richtung der Union: „Jetzt, wo die selbst verschuldete Not groß ist, da sind wir gut als staatsmännische Reserve: Das ist nicht unsere Haltung.“ Mehrere CDU- und CSU-Politiker hatten zuvor die Gesprächsverweigerung der SPD beklagt. Die Sozialdemokraten hatten nach der Koalition mit Merkels Union ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis eingefahren, die Union ihr zweitschlechtestes. „Die Große Koalition wurde abgewählt“, wiederholt die SPD-Führung seither mantraartig.

Eine Neuwahl käme für die Partei trotzdem zur Unzeit: Die SPD steckt mitten in einer inhaltlichen und personellen Neuaufstellung. Parteichef Martin Schulz ist angeschlagen. Er ließ am Montag offen, ob er selbst als Spitzenkandidat antreten würde. „Wir scheuen Neuwahlen nicht“, sagte Schulz. Am Mittwoch trifft er Steinmeier. Ein letzter Vermittlungsversuch des Präsidenten - mit mäßigem Aussicht auf Erfolg.

Schwerer Weg zur Neuwahl

Statt einer Koalition zu Weihnachten könnte es stattdessen „Neuwahlen rund um Ostern“ geben, spekulierte der Grüne Jürgen Trittin. Der Weg dorthin ist weit und kompliziert. So sieht es das Grundgesetz vor. Das Parlament kann sich nicht selbst auflösen – und Merkel nicht die „Vertrauensfrage“ stellen, wie das Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005 taten, um die gewünschte Neuwahl herbeizuführen. Der neu konstituierte Bundestag hat Merkel nicht gewählt, kann sie daher auch nicht abwählen. Zuerst muss auf Vorschlag von Bundespräsident Steinmeier ein neuer Bundeskanzler gewählt werden. Im ersten und zweiten Durchgang braucht es dazu eine absolute, im dritten Durchgang eine einfache Mehrheit. Danach liegt der Ball wieder bei Steinmeier: Er kann eine Minderheitsregierung bestellen– oder eben den Bundestag auflösen. Es gäbe dann binnen 60 Tagen eine Neuwahl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2017)

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