Leitartikel

Die machtverliebten Hohepriester des Strukturkonservatismus

Die Sozialversicherungsreform sollte sich an den Bedürfnissen der Versicherten orientieren, und nicht an denen der Länder.

Eines der großen Verdienste von Sebastian Kurz im Vorfeld der jüngsten Wahl war es, die Blockadeinstitutionen innerhalb der ÖVP ruhigzustellen und damit die Basis für notwendige Reformen überhaupt zu schaffen. Skeptiker hatten allerdings von Anfang an gerätselt, wie lange es wohl dauern würde, bis dieser wahltaktische Burgfrieden enden würde.

Jetzt kann man sagen: Schnell ist es gegangen. Die Koalitionsverhandler sind noch weit davon entfernt, eine detaillierte Vorstellung von der notwendigen Sozialversicherungsreform zu haben, da schlagen die Landeshauptleute in altbekannter schwarz-roter Blockierereintracht schon ihre Pflöcke ein: Reform ja, aber die Interessen der Länder dürfen nicht berührt werden. Neun Länder-Krankenkassen muss es weiterhin geben. Punkt.

Die Furcht des steirischen ÖVP-Landesrats, Christopher Drexler, die Landeschefs könnten als „Hohepriester des Strukturkonservatismus“ dastehen, hat durchaus ihre Berechtigung. Man könnte auch sagen, das sei eine recht realitätsnahe Beschreibung der Herrschaften.

Eigentlich sollte eine Reform der Krankenkassen ja die Interessen der Versicherten im Auge haben. Und nicht die Machtansprüche von Landesfürsten. Und die Versicherten sollten Anspruch auf eine möglichst effiziente Verwaltung ihrer Versicherungsbeiträge haben. Wohingegen der Anspruch der Systembewahrer auf möglichst viele schwarz-rote Geschäftsführerposten in Minikassen eine untergeordnete Rolle zu spielen hat. Die Organisationsform des Sozialversicherungssystems nennt sich schließlich „Selbstverwaltung“, und nicht „Selbstversorgung“.

Natürlich muss man über die Organisation des Systems diskutieren. Unbestritten ist, dass mehr als drei Dutzend Sozialversicherungen (einschließlich der nicht im Hauptverband organisierten Krankenfürsorgeanstalten) für ein Land mit der Einwohnerzahl von Greater London organisatorischer und wirtschaftlicher Unsinn sind.

Das ließe sich noch argumentieren, wenn die einzelnen Kassen auf Konkurrenz machten und die Versicherten sich ihre Kasse aussuchen könnten. Das kommt aber in keinem möglichen Szenario vor. Und so haben wir einfach ein nicht länger argumentierbares Tohuwabohu aus unterschiedlichen Leistungen und Beiträgen, teils ohne, teils mit Selbstbehalt. Bis hin zum wirklichen Ärgernis der Doppelversicherung, obwohl auch Leute, die Honorare und Gehälter gleichzeitig bekommen, nur einmal krank werden können.


Man kann nicht sagen, dass das den Exponenten des Systems nicht bekannt wäre. Innerhalb des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger ist die Reform ja längst in Gang. Da wird an einer Leistungsvereinheitlichung gearbeitet, da geht es um die Abschaffung des Faktors neun in Backoffice-Aktivitäten und Verwaltungsabläufen, da wird irgendwann wohl auch eine Beitragsharmonisierung auf der Agenda stehen.

Wenn es dann einheitliche Leistungen und zentralisierte Backoffice-Abläufe gibt – wozu braucht man dann noch so viele Kassen? Regierung, Sozialpartner und andere Interessenvertretungen haben zusammen schon Millionen für von renommierten Consultingunternehmen erstellte Organisationsstudien ausgegeben. Keine einzige dieser Studien hält die derzeitige Organisation für gut, die meisten kommen mit einer Handvoll Sozialversicherungsträger aus.

Eine Reduzierung und Zusammenlegung bestehender Institute ist also unausweichlich. Selbstverständlich wird man, solange Krankenhäuser in Landeshand sind, dabei auch über Schnittstellen zu den betroffenen Landesregierungen reden müssen. Dass da eigenständige Landeskassen eine sinnvolle Option sind, darf wohl bezweifelt werden. Die Obergrenze dürfte wohl der steirische Vorschlag von teilautonomen Länderkassen sein, also eine Art von Länderfilialen.

Aber wie immer die Reform aussieht: Es geht um die Versicherten, nicht um Länder-Machtgeklüngel. Schade, dass dieser Ansatz noch nicht bis in die Länder durchgedrungen ist.

E-Mails an:josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2017)

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