Schulz will SPD-Mitglieder über Große Koalition abstimmen lassen

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In Deutschland steigt der Druck auf die Sozialdemokraten und ihren Parteichef Martin Schulz, die Regierungskrise abzuwenden. Dieser beugt sich nun einem "dramatischen Appell" des Bundespräsidenten.

Neun Stunden dauerte die Vorstandssitzung der Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus in Berlin, die am Donnerstagabend parallel zum Spitzentreffen der CSU im Franz-Josef-Strauß-Haus in München stattfand. In Berlin - wie in München - gab es hinterher kein klares Ergebnis, aber eine gewisse Bewegung. Die SPD ist in einer noch unkomfortableren Lage als die Christsozialen: Sie hatte sich nach der schweren Niederlage bei der Bundestagswahl auf die Oppositionsrolle festgelegt - unter dem großen Beifall der Parteibasis.

Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition findet sich SPD-Chef Martin Schulz zwischen den Fronten wieder: Der SPD-Basis, die vehement gegen eine Neuauflage der Großen Koalition ist, auf der einen Seite und führenden SPD-Politikern, die die Gunst der Stunde für ihren Machtausbau ergreifen, auf der anderen Seite.

Schulz wählte am Freitag den Weg nach vorne: Er will die SPD-Basis vor einer möglichen Regierungsbeteiligung abstimmen lassen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe die Parteien in einem "dramatischen Appell" zu Gesprächen aufgerufen, schrieb Schulz nach einem Treffen mit dem früheren SPD-Außenminister, Kanzlerkandidaten und Fraktionschef, auf der Kurznachrichtenplattform Twitter. "Dem werden wir uns nicht verweigern. Sollten diese dazu führen, dass wir uns in welcher Form auch immer an einer Regierungsbildung beteiligen, werden die SPD-Mitglieder darüber abstimmen."

Schulz kämpft ums Überleben

Zwei Wochen vor dem SPD-Parteitag in Berlin kämpft der ehemalige EU-Parlamentspräsident ums Überleben - acht Monate, nachdem ihn die Partei mit einer Zustimmung von 100 Prozent beim vergangenen Parteitag zum SPD-Chef und Kanzlerkandidaten gekürt hatte. Angeblich hat eine Gruppe einflussreicher SPD-Politiker um Stefan Weil und Manuela Schwesig, die Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, sowie Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ihn zum Rücktritt aufgefordert, um den Weg frei zu machen für eine etwaige Regierungsbeteiligung. Ein Dementi kam dann nur von Andrea Nahles, der neuen SPD-Fraktionschefin im Bundestag. Und in der Krisensitzung Donnerstagnacht soll er sogar selbst seinen Rücktritt angeboten haben.

Im Namen der Staatsräson wächst der Druck auf die SPD als zweite ehedem große Volkspartei, die Regierungskrise in Deutschland abzuwenden und sich nicht aus der Verantwortung zu stehlen. Neuwahlen dürften nur die letzte Option sein, heißt es aus Niedersachsen. Hier hat die SPD nur wenige Wochen nach der Bundestagswahl bei den Landtagswahlen einen überraschenden Sieg erzielt und sich kürzlich in Rekordzeit mit der CDU auf eine große Koalition verständigt.

Auch Steinmeier versucht hinter der Bühne alles, um das politische Patt aufzuheben. Er hat die Parteichefs der bisherigen großen Koalition, Merkel, Seehofer und Schulz, laut "Bild"-Zeitung für Anfang kommender Woche zu einem Spitzentreffen ins Schloss Bellevue eingeladen. Es könnte sich eine neue Dynamik entwickeln, zumal er auch der Opposition ins Gewissen redet.

Weder Neuwahlen noch große Koalition

Unterdessen suchen SPD-Spitzenpolitiker Alternativen zu Neuwahlen oder einer großen Koalition. Ralf Stegner, einer der Schulz-Stellvertreter, schlug vor, Modelle einer Minderheitsregierung zu erwägen, wie dies etwa in Skandinavien Usus ist. "Wir wünschen uns weder Neuwahlen noch eine große Koalition", sagte Stegner in einem Interview mit der "Passauer Neuen Presse".  In beiden Fällen gäbe es für die SPD wenig zu gewinnen. Laut Meinungsumfragen könnte die SPD bei Neuwahlen nur leicht zulegen. In einer großen Koalition, der dann bereits dritten innerhalb von zwölf Jahren, muss sie als Juniorpartner neben der Union allerdings einen weiteren Aderlass befürchten - selbst wenn sie bei Koalitionsverhandlungen große Zugeständnisse erringen könnte, wie SPD-Politiker andeuten. Karl Lauterbach, Vize-Fraktionschef, knüpft eine Regierungsverantwortung an die Durchsetzung von Kernanliegen wie Bürgerverischerung oder Solidarrente.

Stegner könnte sich die Tolerierung einer von Angela Merkel geführten Regierung vorstellen, eine zeitlich befristete Vereinbarung oder auch wechselnde Mehrheiten. Trotzig fügte er hinzu: "Wir lassen uns nicht unter Druck setzen." Ein Abweichen des Beschlusses gegen eine Regierungsbeteiligung erfordere eine Urwahl unter den Parteimitgliedern, erklärte er. Olaf Scholz, immer wieder als Reserve-Parteichef gehandelt, zeigte sich währenddessen skeptisch gegenüber einer Minderheitsregierung. Europa brauche eine stabile Regierung in Deutschland.

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