Gastkommentar

Jobbik als neue ungarische Volkspartei?

Die bisher als rechtsradikal verschriene Partei Jobbik hat sich einen gemäßigteren Anstrich gegeben und könnte zur Herausforderung für Viktor Orbáns Konservative werden. Nur, ist die Veränderung echt oder lediglich Schein?

Gut ein halbes Jahr vor den ungarischen Parlamentswahlen sollen sich diejenigen, die sich im Frühling 2018 eine politische Wende erhoffen, auf wenig Erfreuliches gefasst machen. Das von der gegenwärtigen konservativen Regierung auf sich zugeschnittene, von der eigenen Mehrheit angenommene und nur von ihr abänderbare System garantiert dem Wahlsieger im Besitz von lediglich einem Viertel der Stimmen der Wahlbürger eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Die Erkenntnis dieser Lage erhöht das Desinteresse der Wähler, sich an Wahlen zu beteiligen, was wiederum der jetzigen Regierungspartei in die Karten spielt. Die im Namen noch immer junge und demokratische Fidesz ist heute alles andere als jung – und beim besten Willen nicht demokratisch.

Angeheizte Leidenschaften

Neben den Fidesz-Anhängern, die direkt von der von Korruption durchdrungenen Verteilung öffentlicher Gelder profitieren, sind die mit Wahlrecht ausgestatteten Auslandsungarn und ein Großteil der etwa zwei Millionen Rentner die Garanten für die Einzementierung der Fidesz in der Regierungsposition. Für ihre Stimmen bei der Wahl verspricht ihnen die Regierung finanzielle Unterstützung, was einem Stimmkauf gleichkommt. Angesichts der Altersarmut in Ungarn ist diese Politik leider ziemlich erfolgreich.

In dieser Lage arbeitet die Regierungspartei nicht einmal ein Wahlprogramm aus. Um ihr Wahlvolk zusammenzuhalten, setzt Fidesz auf angeheizte Leidenschaften gegen Zuwanderer, gegen Brüssel und gegen ihren einstigen Förderer George Soros. Diese Propaganda speist sich aus staatlichen Quellen mit der aktiven Unterstützung der von der Regierung kontrollierten Medien. Die von der Opposition angebrachten ironischen Plakate werden mit der Hilfe des Ordnungsamtes und der Polizei entfernt.

Die traditionelle linke Opposition schwächelt und ist gespalten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie sich nicht erneuern können, bis eine neue Generation das Sagen hat; dafür stehen die Chancen derzeit aber nicht gut. Die Unterstützung für neu gegründete Parteien bewegt sich um die Fünf-Prozent-Hürde.

Als verheißungsvolle Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt gelten Bernadett Szél, Mitvorsitzende der Partei Lehet Más a Politika (LMP – Die Politik kann anders sein), und Gábor Vona, Vorsitzender von Jobbik, der seine Partei umgekrempelt hat. Die von ihrem Radikalismus (und ihren Radikalen) abgekehrte Jobbik stellt für unzufriedene Wähler, die einen Regierungswechsel wünschen, inzwischen eine zunehmend reale Alternative dar.

Jobbik an den Taten messen

Die neue Lage wird inzwischen auch von konservativen, linken und liberalen Politologen erkannt, die mit einem Vormarsch von Jobbik rechnen, deren Anhängerschaft jene der LMP bei Weitem übersteigt. Ohne Jobbik scheint ein Regierungswechsel in Ungarn derzeit nicht möglich zu sein.

Dabei kann man sich fragen, was die größere Gefahr darstellt: die Festzementierung eines peronistischen Orbán-Regimes im Schatten von Putins Russland oder der Eintritt von Jobbik in eine Regierungskoalition? Péter Medgyessy, sozialistischer Ex-Premier, hat vor Kurzem festgestellt: „Man sollte endlich einsehen, dass sich Jobbik erheblich geändert hat: Ich glaube nicht, dass Jobbik in ihrer heutigen Form eine antisemitische, diskriminierende oder zigeunerfeindliche Partie wäre.“ Viele stellen sich allerdings die Frage, ob die Metamorphose von Jobbik echt ist.

Der Sache näher kommt man wohl, wenn man Jobbik an ihren Taten misst. Die Partei hat tatsächlich einen Wandel in Richtung Volkspartei vollzogen. Als integrierende Bewegung verkündete sie das Motto „Das suchen, was uns zusammenführt, und nicht das, was uns trennt!“.

Jobbik hat sich bei allen öffentlich entschuldigt, die sie früher eventuell verletzt hat. Auch ihren Standpunkt gegenüber Brüssel hat Jobbik geändert. Im Rahmen einer angestrebten Öffnung nach außen baut sie neue Beziehungen auf, um eine bessere EU mitzugestalten. Im Gegensatz zu dem von Orbán geführten Brüssel-feindlichen Kampf könnte Jobbik einer mit stärkeren Kompetenzen ausgestatteten Union zustimmen, sofern diese auch den Interessen Ungarns dient. Und während sich die Orbán-Regierung auf Verhinderung der Zuwanderung konzentriert, geht es Jobbik vor allem darum, die Abwanderung von ungarischen Arbeitskräfte ins Ausland zu bremsen.

Initiative gegen Abwanderung

Zurzeit arbeiten etwa eine halbe Million Ungarn im Ausland. Sie stellen einen gut ausgebildeten und aktiven Teil der einheimischen Arbeitnehmer dar – und ihre Abwesenheit wird die Entwicklung der ungarischen Wirtschaft langfristig negativ beeinflussen. Die Abwanderung hat schwere soziale Konsequenzen: Familien werden getrennt, und eine Generation wächst heran, deren Kinder im Ausland geboren werden und die dort zur Schule gehen. Ob sie nach Ungarn zurückkehren, steht in den Sternen. Durch dieses Phänomen wird die wegen der schrumpfenden Bevölkerungszahl ohnehin kritische demografische Lage noch mehr beeinträchtigt.

Jobbik hat sich an die Spitze einer Bewegung gestellt, die dagegen etwas unternehmen will. Bisher haben sich dieser Bewegung Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen in und außerhalb Ungarns angeschlossen. Mit einer von der Jobbik in die Wege geleiteten Initiative sollen die ungerechten Lohnunterschiede zwischen den zentralen und peripheren Ländern der Union verringert werden, die verantwortlich für die Abwanderung sind.

Ausgewogenes Lohnniveau

Das auf billiger Arbeitskraft basierende Wachstum hat seine Möglichkeiten ausgeschöpft. Die qualifizierten Arbeitskräfte strömen von der Peripherie in die entwickelten Regionen. Eine langfristige harmonische Entwicklung der EU wird allein durch ein ausgewogenes Lohnniveau in den Mitgliedsländern gewährleistet werden.

Diese Problematik wurde auch von Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron, und von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits angesprochen. Die Lohnunion stellt durchaus einen Bereich dar, der eine breite Unterstützung findet – und die den Zustrom zu Jobbik verstärken kann.

In und außerhalb des Budapester Parlaments unterstützt Jobbik alle wichtigen Initiativen der Opposition, einschließlich des Themas Gewalt gegen Frauen. Einer Verschärfung der Sanktionen legt aber die regierende Fidesz konsequent Steine in den Weg.

Nicht zuletzt setzte sich Jobbik auch für die Revision des Gesetzes durch das Verfassungsgericht ein, das sich gegen die Tätigkeit der Mitteleuropäischen Universität CEU richtete. Fazit meinerseits: Die bisherigen Aktionen von Jobbik zeugen sehr wohl von ihrer Absicht, sich zu verändern. Freilich hat die Partei noch viele weitere Aufgaben zu bewältigen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

István Teplán (*1958) ist Sozialwissenschaftler, ausgebildet in Ungarn und an amerikanischen Universitäten. Er ist einer der Mitgründer der Mitteleuropäischen Universität (CEU) in Budapest und war 17 Jahre lang deren erster ausübender Vizepräsident. Er ist öffentlicher Intellektueller in Ungarn, Autor von Fachartikeln und Mitautor von Büchern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2017)

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