Gefährliche Wunderheiler

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15 Jahre nach dem "Fall Olivia" wehren sich wieder Eltern gegen die Schulmedizin. Die hat komplementäre Therapien zwar längst akzeptiert, ultimative Heilsversprechen locken aber immer noch.

Muriel ist elf Monate alt und HIV-positiv, vermutlich ist die Krankheit bereits ausgebrochen. Derzeit wird sie im LKH Graz wegen einer Lungenentzündung behandelt und bekommt Medikamente gegen das Virus – gegen den Willen ihrer Eltern. Denn die, beide selbst HIV-positiv, glauben gar nicht, dass es die Krankheit Aids überhaupt gibt. Die Mutter, Barbara Seebald, ist überzeugt: „Obwohl Muriel keine klinische Pflege mehr benötigt, wird sie hier gefangen gehalten. Der Arzt, der Muriel zurzeit zwangsbehandelt, ist ein Gegner der Ganzheitsmedizin.“ Vor allem stört sie: „Die große Frage, ob es Aids nun so wie dargestellt gibt oder nicht, geht dabei unter.“

Der Fall lässt alte Erinnerungen hochkommen: 1995 war es die damals sechsjährige Olivia Pilhar, die – nach einer abenteuerlichen Flucht nach Spanien – schließlich gegen den Willen ihrer Eltern schulmedizinisch behandelt wurde (siehe unten).

Und noch etwas haben die beiden Fälle gemeinsam: den selbst ernannten deutschen „Wunderheiler“ Ryke Geerd Hamer. Hamer, mittlerweile seit 30 Jahren und längst ohne ärztliche Approbation mit seiner „Germanischen Neuen Medizin“ aktiv, hatte erst durch den „Fall Olivia“ internationale Bekanntheit erlangt, eine Wiener „Natur“-Ärztin hatte ihn an die Familie vermittelt. Nun ist Hamer auch in Sachen Muriel aktiv – von Norwegen aus, wo er sich seit einer Haftstrafe in Frankreich offenbar aufhält.

Hamer behauptet im Rahmen seiner „Germanischen Neuen Medizin“, dass es so etwas wie Krankheit gar nicht gibt. Vielmehr seien Krankheiten „sinnvolle biologische Sonderprogramme“, die nach einem Schockerlebnis, einem „Konflikt“, in Gang gesetzt werden. Um geheilt zu werden, müsse man schlicht diesen „Konflikt“ lösen.


Todes-Chip. In einem aktuellen Brief bekräftigt Hamer seine Verschwörungstheorie mit antisemitischen Untertönen. Aids sei nur eine Allergie gegen männliches Smegma, die Therapien gegen Aids und Krebs „vorsätzlicher Massenmord“. Er erklärt, jüdische Onkologen würden seit Jahren die „Germanische“ praktizieren, jüdische Krebspatienten hätten daher eine Mortalität von lediglich ein bis zwei Prozent. Und die Grippeimpfung sei in Wahrheit ein „Todes-Chip“, mit dem Menschen nach Belieben ausgeschaltet werden könnten.

So abstrus das klingt – Hamers Theorie findet immer noch ihre Anhänger. Engagiertester Verfechter: Helmut Pilhar, der Vater von Olivia. Unermüdlich reist er durch die Lande, hält Seminare und Vorträge. Erst am Donnerstag war er in Villach. Themen: eine Einführung in die „Germanische Neue Medizin“, ein Seitenhieb auf die Schulmedizin und „Olivia – was wirklich geschah“. Im Unterschied zu früher meiden Hamer-Anhänger heute jedoch die Öffentlichkeit. Veranstaltungen werden über Flugzettel und Mundpropaganda bekannt gemacht, Stammtische finden in Hinterzimmern statt. Gerade die Steiermark, wo Hamer einst in Burgau residierte, sei weiterhin ein „relativ potentes Hamer-Zentrum“, berichtet der steirische Sektenbeauftragte Roman Schweidlenka. Was neu ist, sind die vermehrten Kontakte zur rechtsextremen deutschen NPD.

Ein deutscher Beobachter der Szene berichtet, dass sich Verfechter ganz gezielt über Selbsthilfegruppen an Krebspatienten heranmachen würden. Von Morddrohungen berichtet ein anderer. Auch tauchen bisweilen neue, Antisemitismus-freie Ableger von Hamers Theorien auf.

Immer wieder werden damit auch Todesfälle in Verbindung gebracht, weil Patienten jede Behandlung verweigern. Anders als bei Kindern fällt das, was Erwachsene in Bezug auf ihre Gesundheit tun oder lassen, unter den Titel „Behandlungsfreiheit“. Doch was, wenn es gerade Ärzte sind, die Ideen wie jene Hamers propagieren?

So erging es Friedrich Schaffer (Name von der Redaktion geändert). 2001 wurde bei Schaffer ein Darmkarzinom festgestellt. Ein eng befreundeter Arzt, dem die Familie seit Jahren vertraute, warnte Schaffer eindringlich davor, sich operieren zu lassen, und schickte ihn stattdessen zu Vorträgen über die Germanische Neue Medizin, auch zu Hamer nach Spanien. Er erklärte, ohne Operation, aber mit bewältigter Problemlösung, würde Schaffer in drei bis fünf Jahren völlig geheilt sein – ohne OP, ohne Chemotherapie und ohne künstlichen Darmausgang.

Für den Tumor verantwortlich sei ein Konflikt mit den Eltern. Wie der zu lösen sei, müsse der Patient selbst herausfinden. Schaffer versuchte es vergeblich, wurde dabei immer schweigsamer. Erst drei Jahre später waren seine Zweifel so groß, dass er sich in eine Klinik begab. Dort, berichtet seine Frau Eva, schlugen die Ärzte die Hände über dem Kopf zusammen. Bei einer Operation wurde ein vier Kilo schwerer Tumor entfernt. Fünf Mal wurde Schaffer nun operiert, doch hatten sich längst Metastasen gebildet. „Es muss furchtbar gewesen sein, mit der Erkenntnis zu leben, dass man sich so falsch beraten hat lassen“, ist seine Frau überzeugt.


Erkenntnis kam zu spät. Vor seinem Tod 2007 nahm ihr Schaffer das Versprechen ab, andere vor dem gleichen Fehler zu warnen. Dass er sich schließlich doch noch der Schulmedizin zugewandt hatte, betrachtet sie als Glück. „So bekam er wenigstens Medikamente gegen die Schmerzen. Wer bei Hamers Lehre bleibt, stirbt qualvoll.“ Ein Gutachten bescheinigte, dass der Patient höchstwahrscheinlich durch eine frühe Operation hätte geheilt werden können.

Doch was ist es, das selbst vernünftige Menschen so verführen kann? Ist es die Rolle der Psyche, die plausibel erscheint? Wenn ja, muss Gabriele Traun-Vogt, stellvertretende Obfrau der Plattform für Psychoonkologie, enttäuschen. „Es gibt weltweit keine seriösen Studien, die besagen, dass die Psyche Auslöser für Krebserkrankungen ist.“ Zwar könne die Psyche in einem multifaktoriellen Modell eine Rolle spielen, aber: „Krebs ist keine psychosomatische Krankheit.“

Die Frage „Warum ich, warum jetzt?“ sei nach einem traumatischen Erlebnis wie einer Krebsdiagnose dennoch eine normale Reaktion. Erklärungen, die die Ursachen in der Psyche sehen und mit der Aufarbeitung Genesung versprechen, seien da sehr verlockend. Zumal dem Patienten suggeriert wird, er selbst habe die Kontrolle. Aber: „Wo immer jemand Heilung verspricht, wird es dubios. Auch die Schulmedizin kann keine Garantie geben.“

Traun-Vogt weiß, was Kranken so alles angeboten wird – von Tees bis zum philippinischen Wunderheiler. „Jeder, der behauptet, etwas allein zu haben, ist verdächtig.“ Mitunter treffe man sogar auf Psychologen, Psychotherapeuten oder Ärzte, die einzigartige Therapien versprechen und vom Behandler zum Hoffnungsverkäufer werden.

Auch Sektenexperte Schweidlenka beobachtet, dass Patienten hie und da nahegelegt wird, ganz auf die Schulmedizin zu verzichten. Zuletzt habe es in einem solchen Zusammenhang auch einen Todesfall gegeben. Doch ähnlich wie im Dunstkreis von Hamer scheuen sich auch hier Verwandte und Freunde, öffentlich darüber zu sprechen.

Die Eltern von Muriel betonen indes, keine „Anhänger“ von Hamer zu sein, sie würden seine Arbeit „respektieren“. Er sei einer von vielen, die behaupten, dass es Aids nicht gibt. Auch etwas, das – selten, aber doch – vorkommt: Dennis Beck, Obmann der Aidshilfe Wien, berichtet, dass auch heute noch Menschen die Existenz von Aids leugnen würden – weil sie von „völlig unseriösen Alternativmedizinern“ verführt würden.

Gerade die Kombinationstherapie, die seit etwa 1995 im Einsatz ist, belege die Existenz der Krankheit. „Bis dahin sind in Österreich pro Jahr 140 bis 160 Menschen an Aids gestorben, heute sind es acht bis zwölf. Durch die Therapie geht nicht nur die Virusbelastung drastisch zurück, auch die Funktion des Immunsystems verbessert sich messbar.“ Emotional sei die Flucht in die Verleugnung zwar zu verstehen. „Aber wenn das dazu führt, dass jemand nicht mehr geschützt wird und keine Therapie bekommt, wird es sehr gefährlich.“


Geschäft mit Vitaminen. Zu jenen, die zumindest an der Wirksamkeit der Aids-Therapie zweifeln, gehört auch ein anderer, nicht gerade Unbekannter: der umstrittene deutsche Mediziner Matthias Rath. Er wirft der Pharmabranche vor, mit unwirksamen Medikamenten die Patienten auszubeuten – und verdient selbst prächtig mit seinen Vitamintabletten, die auch bei Aids und Krebs Heilung versprechen. 2004 ging er mit einem vom Krebs „geheilten“ Buben auf Werbetour – der noch im selben Jahr starb.

Dabei hat sich in den 15 Jahren seit dem „Fall Olivia“ viel verändert. Längst lässt die Schulmedizin Komplementäres zu. „Komplementärmedizin begleitet die Schulmedizin, Alternativmedizin schließt sie aus. Dadurch kann eine erfolgreiche klinische Therapie so lange verzögert oder verhindert werden, bis es zu spät ist“, erklärt Leo Auerbach, Gynäkologe mit Schwerpunkt auf Brustkrebs und komplementäre Krebstherapien am Wiener AKH, den entscheidenden Unterschied.

Die Zahl jener, die ihr Heil in rein Alternativem suchen, sei klar rückläufig. Eben weil Komplementärmedizin integriert wird. Und weil auch die Schulmedizin erkannt hat, das neben dem Therapieerfolg noch etwas ganz anderes zählt: die Lebensqualität.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2010)

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