Neue Grippe: Für nichts gefürchtet oder Schwein gehabt?

(c) AP (RUSS DILLINGHAM)
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Die WHO rief zum ersten Mal seit 40 Jahren die höchste Pandemie-Warnstufe aus, Regierungen kauften Millionen an Impfdosen, doch am Ende erwies sich die Schweinegrippe als harmloser als die gewöhnliche Grippe.

Als Adela María Gutiérrez am Nachmittag des 13. April 2009 im Allgemeinen Krankenhaus in Oaxaco starb, hatte Mexiko ein Problem. Die 39-Jährige war mit einem bislang unbekannten Virus infiziert. Drei Tage später lösten die mexikanischen Behörden Alarm aus. Am 20. April stellte das „Center for Disease Control“ das Virus bei zwei Kindern im kalifornischen San Diego fest, und den Gesundheitsbehörden war klar: Nicht nur Mexiko oder die USA haben ein Problem, die ganze Welt hat eines.

Das neue Virus, mittlerweile wissenschaftlich A/H1N1/09 und umgangssprachlich „Schweinegrippe“ genannt, breitete sich schnell aus, die aus Mexiko gemeldete Sterblichkeitsrate war hoch. Manche Experten sprachen schon von einer möglichen Wiederholung des Jahres 1918, als der gleiche Subtyp des Influenza-A-Virus, bekannt als die „Spanische Grippe“, weltweit 25 bis 50 Millionen Tote forderte. Die Weltgesundheitsbehörde WHO löste zum ersten Mal seit 40 Jahren die höchste Pandemie-Alarmstufe aus, weltweit bestellten Regierungen hunderte Millionen Impfdosen, um ihr Volk vor der „Killergrippe“ zu schützen. Insgesamt, schätzt die Investmentfirma JPMorgan, wurden 2009 im Kampf gegen die Schweinegrippe mehr als 20Milliarden Dollar ausgegeben.

Neun Monate nach dem ersten Todesfall halten wir bei weniger als 15.000 Menschen, die offiziell Opfer der Schweinegrippe wurden. Damit erwies sich das vermeintlich gefährlichste Grippevirus seit 90 Jahren als weitaus harmloser als das gewöhnliche saisonale Grippevirus. Dem erliegen laut Statistiken der WHO jedes Jahr zwischen 250.000 und 500.000 Menschen.

Was ist passiert? War die Schweinegrippe nie so gefährlich wie behauptet? War die Aufregung nur ein Coup der Pharmaindustrie, um Geld zu machen? Ist die Schweinegrippe in Wirklichkeit der „größte Medizinskandal der Geschichte“, wie ein deutscher Politiker meint? Oder war es einfach nur übertriebene Vorsicht, gepaart mit persönlichen Befindlichkeiten an der Spitze der Weltgesundheitsorganisation?

Das Grundproblem im Umgang mit A/H1N1, darüber sind sich Kritiker wie Befürworter der Vorgangsweise der Gesundheitsbehörden einig, war die Pandemie-Warnung der WHO Anfang Juni 2009. Sie hatte zur Folge, dass in vielen Ländern der Welt automatisch Notfallpläne in Kraft traten. „Da gab es wenig zu überlegen, wir haben unsere Mechanismen in Gang gesetzt“, erklärt Clemens-Martin Auer, Sektionschef im Gesundheitsministerium, die Reaktion Österreichs auf die WHO.

Die Pläne inkludierten nicht nur hierzulande eine breit angelegte Schutzimpfung der Bevölkerung. In Deutschland bestellte man 50 Millionen Dosen Impfstoff, in Frankreich sah der Pandemie-Plan eine völlige Durchimpfung aller Einwohner vor. Jetzt sitzen die Regierungen auf teils Millionen ungebrauchter Impfdosen, weil die Schweinegrippe weitaus milder verlief als vorhergesagt und sich daher kaum jemand impfen ließ.


Wer berät die WHO? Umstritten ist die Frage, wie die WHO zu ihrer Entscheidung kam und was oder vielmehr wer hinter dieser Entscheidung stand. „Es war eine stinknormale, noch dazu milde Grippe, die von der Pharmaindustrie hochgespielt wurde“, meint der deutsche Arzt und SPD-Politiker Wolfgang Wodarg. „Wir waren Getriebene“, meint dagegen der Wiener Arzt Michael Kunze, Leiter des Instituts für Sozialmedizin und nach eigenen Worten „Schweinegrippe-Berater des Gesundheitsministeriums der ersten Stunde“. Einerseits habe es eine weltweite mediale Hysterie gegeben. Andererseits aber seien die Zahlen aus Mexiko „erschreckend“ gewesen. „Es sah so aus, als ob was ganz Großes kommt“, erzählt Kunze.

Die aus Mexiko gemeldete Sterblichkeitsrate lag bei sechs Prozent. Das kommt schon an die „Spanische Grippe“ heran. „Blödsinn“, wirft Wodarg ein. Diese hohe Zahl sei nur deshalb zustandegekommen, weil man auch Tote gezählt habe, die nicht der Schweinegrippe zuzurechnen waren.

Das „European Centre for Disease Control“ (ECDC) in Stockholm, das von der EU eigens dafür gegründet wurde, infektiöse Krankheiten zu bekämpfen, warnte bereits in einem Bericht am 8. Mai 2009: „Die in Mexiko genannte Sterblichkeitsrate von vier Prozent ist verzerrt. Die Zahlen aus den USA (ein Todesfall bei 1000 Infizierten, Anm.) ist das, was man bei der üblichen Grippe auch sieht.“ Die Schweinegrippe, befand das ECDC in dem Bericht, verlaufe nach allen bisherigen Beobachtungen „mild“.

Bei der Weltgesundheitsorganisation sah man das völlig anders. Schon Ende April warnte man vor einer Pandemie, am 11. Juni 2009 rief die WHO offiziell die höchste Alarmstufe 6 aus. Etwas, das sie zuletzt 1977 tat, als die „Russische Grippe“ wütete und weltweit fast eine Million Menschen tötete. Die „Vogelgrippe“, die 2005 für einen ähnlichen medialen Sturm wie die Schweinegrippe sorgte, brachte es nur zu einer Pandemie-Warnstufe 3.

„Es gibt viele Indizien, dass Pharmafirmen etwas mit dem Auslösen der höchsten Alarmstufe zu tun hatten“, sagt Wodarg. Er will das nicht nur mutmaßen, sondern belegen. Der SPD-Politiker ist Vorsitzender des Gesundheitsunterausschusses des Europarats, der am 28. Jänner eine Anhörung zur Schweinegrippe abhält: Experten der WHO sind ebenso vorgeladen wie Chefs von Pharmaunternehmen und Epidemiologen. Sie sollen erklären, „was hier wirklich geschehen ist“.


Schiefe Optik. Tatsächlich ist die Optik etwas schief. Mehrere Institutionen und Ärzte, die die WHO beim Umgang mit A/H1N1 berieten, haben nicht nur ein Naheverhältnis zur Pharmaindustrie, sie werden sogar von ihr finanziert. Beispielsweise das Institut des finnischen WHO-Beraters Juhani Eskola, das im vergangenen Jahr 6,3 Millionen Euroan Spenden von „Glaxo Smith Kline“ erhielt, dem größten Hersteller eines Impfstoffs gegen die Schweinegrippe. In den Niederlanden geriet der wegen seiner Expertisen als „Dr. Flu“ bezeichnete WHO-Berater Albert Osterhaus in die Schlagzeilen, weil man ihm finanzielle Verquickung mit Pharmaunternehmen nachsagte. Das holländische Parlament hat eine Untersuchung eingeleitet.

Als „seltsam“ bezeichnen Kritiker auch, dass die WHO nach dem Auftreten der Schweinegrippe ihre eigenen Pandemie-Regeln änderte. Früher war auch die Sterblichkeitsrate ein Faktor für die Auslösung der höchsten Alarmstufe. „Der Satz ,eine sehr große Zahl von Toten‘ wurde im Mai gestrichen“, erklärt der britische Forscher Tom Jefferson. Damit genügte für einen weltweiten Alarm, dass die Krankheit in verschiedenen Kontinenten auftritt.

Ein Fest für Verschwörungstheoretiker ist ein weiteres Detail. Die „European Scientific Working-Group on Influenza“ (ESWI) organisierte am 23. Jänner 2009 ein Seminar für Gesundheitsverantwortliche im öffentlichen Dienst. Das Thema: „Vorbereitungen für eine Pandemie.“ Das ESWI wird, wie es auf seiner Webseite schreibt, von der Pharmaindustrie finanziert.

„Natürlich sind wir auf Kongressen gewesen, die die Pharmaindustrie finanziert. Natürlich kennen wir die“, sagt Kunze. „Aber deswegen heißt das nicht, dass sie die Politik bestimmen.“ Er habe als Berater des österreichischen Gesundheitsministeriums alle Verbindungen zu Pharmaunternehmen offenlegen müssen. Das, glaubt Sektionschef Auer, sei ein grundlegendes Problem bei der Weltgesundheitsbehörde: „Man weiß nicht, wer im Hintergrund berät.“ Die ursprüngliche Überlegung sei gewesen, durch die Geheimhaltung sicherzustellen, dass die Industrie keinen Einfluss auf die Berater nehmen kann. „Aber durch die Geheimhaltung weiß man auch nicht, wer schon beeinflusst ist.“

Möglicherweise hat die Alarmierung auch einen persönlichen Hintergrund. WHO-Direktorin Margaret Chan (die sich übrigens nicht impfen ließ) war als Gesundheitsdirektorin in Hongkong tätig, als dort die Vogelgrippe und die Lungenkrankheit SARS auftraten. Es gab viele Tote, man warf Chan vor, die Krankheiten nicht ernst genommen und nicht entsprechend reagiert zu haben. Vielleicht spielte das bei ihrer Entscheidung für die Auslösung des weltweiten Alarms mit.

Zur Pandemie-Warnung kam auch eine äußerst langsame Reaktion auf die aktuelle Entwicklung. Claudia Wild meint sogar, dass „Fakten ignoriert wurden“. Die Leiterin des Wiener Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment verweist auf den Verlauf der Schweinegrippe in Australien. Im Juli und August machte man im Winter der Südhalbkugel die ersten Erfahrungen, und sie zeigten, dass die Schweinegrippe nicht gefährlicher ist als die jährliche Influenza. „Sie verlief sogar milder“, erklärt Wild.

Das stellte auch das ECDC fest. „Die Sterberate aus Australien zeigt geringe Unterschiede zu der vom Winter 2008“, schrieb das Forschungszentrum in einer Risikoeinschätzung am 25. September 2009. Und weiter: Es sei durchaus möglich, dass „die Sterberate dieser Pandemie geringer ist als die der saisonalen Grippe“.

Bei Sitzungen der EU-Gesundheitsbehörden hörte man von diesen Einschätzungen nichts. „Bei einem Treffen im Oktober waren die Beschreibungen über den Krankheitsverlauf dramatisch. Großbritannien meldete massive Krankheitsfälle, ebenso Spanien, wo die Infektionsrate enorm schnell stieg“, berichtet Auer. „Es blieb der Eindruck, dass es ganz schlimm ist.“ Die europäischen Gesundheitspolitiker gingen von einer Infektionsrate von 30 Prozent aus, Gesundheitsminister Alois Stöger sprach von im Extremfall 2,4 Millionen Erkrankten in Österreich. Rückblickend, meint Auer, hätte man die Lage aufgrund der Daten aus Australien und Neuseeland wohl anders einstufen müssen. Das ECDC mahnte jedenfalls schon im September, die Daten anzupassen und von weniger Fällen auszugehen.


Kein Weg zurück. Zurückziehen konnte man zu dem Zeitpunkt aber ohnehin nicht mehr: Die Maschinerie lief, die Impfstoffe waren bestellt und „die Panik wurde weiter geschürt“, meint Wolfgang Wodarg. Auer und Kunze können diesen Vorwurf nicht nachvollziehen: „Ich vermisse bei den Verschwörungstheorien eines: das große Geld“, meint Auer. Die Pharmaindustrie habe nicht viel an der Schweinegrippe verdient, weil die Entwicklungskosten der Impfstoffe sehr hoch gewesen seien. Dazu kämen jetzt massenweise Stornierungen von Impfdosen.

Die Umsätze waren dennoch nicht schlecht. Nach Schätzungen gaben allein Europas Regierungen zwischen zwei und fünf Milliarden Euro für Impfstoffe aus. Bei einem Markt, der normalerweise einen Umsatz von 17Milliarden Euro hat, keine kleine Summe (das Impfstoffgeschäft macht nur einen geringen Teil des Weltpharmamarkts aus, dessen Umsatz auf 500 Milliarden Euro geschätzt wird).

Der größte Profiteur war Glaxo Smith Kline. 72 Regierungen bestellten bei dem britischen Unternehmen fast 500 Millionen Impfdosen im Wert von 2,5Milliarden Euro. Novartis machte mit seinem Impfstoff allein im vierten Quartal 2009 knapp 500 Millionen Euro Umsatz, Sanofi-Aventis etwa 350 Mio. Euro. Abgeschlagen ist Baxter, das unter anderem Österreich mit dem Impfstoff Celvapan belieferte.

(c) Die Presse / HR

Die Schweinegrippe mag mittlerweile aus den Schlagzeilen verschwunden sein, die nächste Grippe wartet aber schon: In den Niederlanden ist das „Queensland-Fieber“ ausgebrochen. Eine Krankheit, die man auch „Ziegengrippe“ nennt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2010)

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