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Jüdisches Museum: Bei „Genosse Herr Doktor“ in Wien

(C) Jüdisches Museum Wien
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Zum 100. Jubiläum der Russischen Revolution widmet sich die dichte und informative Schau „Genosse. Jude“ einem Spezialaspekt österreichischer Geschichte.

Der Revolutionär Lew Bronstein floh 1907 nach einer Verurteilung zu lebenslanger Verbannung nach Sibirien aus Russland. Er landete in Wien. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, als er sich erneut absetzen musste, blieb Bronstein mit kurzen Unterbrechungen in der Hauptstadt des Habsburgerreiches. Mit Adolf Joffe gab er die „Prawda“ in russischer Sprache heraus, die in seine alte Heimat geschmuggelt wurde, wo sie den Umsturz propagieren sollte. Bronstein, der später unter dem Vulgonamen Leo Trotzki als einer der Vollstrecker der Russischen Revolution 1917 weltberühmt wurde, schloss in Wien auch Bekanntschaft mit prominenten Sozialdemokraten. Man traf sich im Café Central. Über Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner mokierte er sich wegen deren Philistertum: „Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit ,Herr Doktor‘. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit ,Genosse Herr Doktor‘ an.“

Solche Bonmots und eine Fülle interessanter Querverbindungen gibt es derzeit im Palais Eskeles zu sehen. Zum 100. Jubiläum kommunistischer Machtergreifung in Russland hat das Jüdische Museum seine Schau speziellen österreichischen Aspekten der Revolutionsgeschichte des 20. Jahrhunderts gewidmet: „Genosse. Jude – Wir wollten nur das Paradies auf Erden“ zeigt aus jüdischer Sicht eine starke Wechselwirkung, die vom Ursprung bis zum Verfall des Kommunismus reicht.

Die „Volksstimme“ zum Einschlafen

„Nicht alle Juden waren Kommunisten, aber viele Kommunisten waren Juden“, sagt Direktorin Danielle Spera. Sie schrieb einen erfrischenden Beitrag im Katalog, der von den Kuratorinnen Gabriele Kohlbauer-Fritz und Sabine Bergler herausgegeben wurde. Spera verrät Privates. Ihr Elternhaus war kommunistisch, der Vater pendelte als Geschäftsführer von Speditionen der KPÖ zwischen Wien, Moskau und Ostberlin: „Bei den seltenen Aufenthalten meines Vaters in Wien zwischen seinen Reisen las er mir vor dem Einschlafen aus der Kinderseite der ,Volksstimme‘, des Parteiorgans der KPÖ, vor.“

Das klingt ein wenig nostalgisch, doch die Ausstellung zeigt das nur punktuell. Sie ist vielstimmig, ja sogar etwas überladen. All der Appellcharakter dieser vielen Propagandaplakate kann ermüden. Sie hat auch Witz, wenn man zum Beispiel einen sowjetischen Wandteppich aus den Dreißigerjahren betrachtet: Diktator Josef Stalin wurde ein Bart angemalt, der an den Wiener Journalisten Theodor Herzl erinnert, den Hauptbegründer des politischen Zionismus. Oder gleich zu Beginn die Galerie mit Büsten und Bildern jüdischer Größen der Arbeiterbewegung: Dr. Karl Marx, Dr. Rosa Luxemburg, Dr. Otto Bauer, Dr. Viktor Adler (der Trotzki bei der Flucht finanziell großzügig unterstützte). Ein Schelm, wer bei diesen Ikonen künftig an „Genosse Herr Doktor“ denkt.

Sowjet-Zion an der Grenze zu China

In Kombination mit dem Katalog erfüllt diese Schau die Funktion eines historischen Seminars. Man sollte sich viel Zeit für die Ergründung dieser Geschichte nehmen, Utopien und Terror, Internationalismus und Antisemitismus, starke Kunst der Avantgarde, dröger sozialistischer Realismus und zutiefst biedere Heldenverehrung werden dicht an dicht präsentiert. So viele Schicksale: Der Dramatiker Jura Soyfer, der mit 26 Jahren nach der Haft im KZ Buchenwald starb, oder Prive Friedjung, deren langes Leben (1902– 2005) von Flucht gekennzeichnet war, ähnlich wie bei Trotzki, zwischen Ost und West. „Wir wollten nur das Paradies auf Erden. Die Erinnerungen einer jüdischen Kommunistin aus der Bukowina“ lautet der Titel von Friedjungs Biografie (am 17. 12. um elf Uhr gibt es dazu eine Matinee im Museum).

Von einer fernen Utopie handelt auch ein Abschnitt über Birobidschan: An der Grenze zu China wurde vor mehr als 80 Jahren ein „sowjetisches Zion“ geplant. Stalin ließ dort die Juden eine Stadt bauen. Sie sollten offenbar möglichst weit weg von Moskau angesiedelt werden. Jüdische Kommunisten aus aller Welt beteiligten sich an diesem Projekt. Heute leben nur noch zwei Prozent Juden in dieser Stadt mit 75.000 Einwohnern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2017)

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