Freilassung von Journalistin: Ende der deutsch-türkischen Krise in Sicht?

(c) REUTERS (Osman Orsal)
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Mesale Tolu wird unter Auflagen aus der U-Haft entlassen. Ankara wirft ihr Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Hinter dem Gerichtsentscheid könnte die türkische Regierung stehen.

Mesale Tolu ist in Handschellen in den kleinen Gerichtssaal in Istanbul geführt worden. Auf der Anklagebank sitzen sie und die fünf anderen inhaftierten Beschuldigten, jeder von ihnen flankiert von zwei Polizisten. Als der junge Richter am Montag seine Entscheidung verkündet, hält Tolu über den Schoß eines der Polizisten hinweg die Hand eines Mitangeklagten.

Dann löst sich die Anspannung mit einem Schlag in Freude auf: Die Deutsche und die fünf türkischen Inhaftierten kommen frei - unter Auflagen: Das Land verlassen dürfen sie nicht, jeden Montag müssen sie sich bei der Polizei melden.

Ein Freispruch ist das nicht: Die sechs Beschuldigten - die letzten in dem Prozess, die noch in U-Haft saßen - werden nur bis zu einem Urteil auf freien Fuß gesetzt. Wann damit zu rechnen sein könnte, steht in den Sternen; fortgesetzt wird der Prozess am 26. April. Der 33-jährigen Deutschen aus Ulm, die in Istanbul für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha arbeitet, und ihren 17 Mitangeklagten wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen, gemeint ist die linke MLKP.

Nach der Entscheidung des Gerichts am Montag reckt ihr Vater Ali Riza Tolu vor dem Saal die Faust zur Siegerpose in die Luft. Er sagt: "Ich bin der glücklichste Mensch der Welt."

Freilassung in Ankara gefällt?

Die Anklage basiert im Wesentlichen auf der Teilnahme Tolus an Kundgebungen. Aus Sicht ihrer Anwälte hätte sie für die dünnen Vorwürfe erst gar nicht in U-Haft genommen werden dürfen. Ihr Vater führt die Freilassung - die das Gericht zum Prozessauftakt am 11. Oktober noch verweigert hatte - auf die Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zurück.

Zwar betont die türkische Regierung bei jeder Gelegenheit, die Justiz sei unabhängig. Am Montag zweifelten Beobachter im Gerichtssaal aber daran, ob wirklich das Gericht in Istanbul über die Freilassung der Deutschen zu befinden hatte - oder ob diese Entscheidung nicht vielleicht in Ankara gefällt wurde. "Das ganze wirkt wie eine Farce", sagte der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, der nach Istanbul gekommen war, kurz vor Verkündung der Entscheidung.

Tatsächlich bemüht sich die türkische Regierung seit dem Höhepunkt der Krise im Sommer um Entspannung. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann - der am Montag ebenfalls als Beobachter beim Prozess in Istanbul war - bekommt wieder leichter Termine, nachdem die Türen in Ankara für ihn zeitweise verschlossen waren. Ende Oktober wurde der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner aus der U-Haft entlassen.

Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek, der vor allem für Wirtschaft zuständig ist, sagte Anfang des Monats nach einem Bericht der regierungsnahen Zeitung "Daily Sabah", das Schlimmste sei vorüber. "Die deutsch-türkischen Beziehungen verbessern sich. Die Beziehungen verbessern sich, nachdem sie die Talsohle erreicht hatten."

Sorge um deutsche Investitionen

Ähnliche Töne kommen aus der Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. "Unsere Beziehungen zu Deutschland haben angefangen, sich zu normalisieren", sagte AKP-Sprecher Mahir Ünal kürzlich bei einem Treffen mit Auslandskorrespondenten, das an sich schon ein Ereignis mit Seltenheitswert war. "Wir wollen keine Probleme mit Deutschland." Erdogan selber hat seit Wochen keine neuen Vorwürfe an die Adresse Deutschlands mehr gerichtet.

Berechenbarkeit ist keine Stärke der türkischen Außenpolitik, daher lässt sich über die Hintergründe der Charmeoffensive nur spekulieren. Ein Auslöser dürfte sein, dass sich Probleme mit anderen Staaten mehren - derzeit vor allem mit den USA und mit Israel. Auch hat die türkische Seite erkannt, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem wichtigsten Handelspartner Deutschland nicht abgekoppelt von der politischen Kooperation funktioniert. Knirscht es zwischen Berlin und Ankara, bleiben neue Investoren aus Deutschland fern.

Mit dem Entschluss, Mesale Tolu freizulassen, ist eine Hürde zur Verbesserung der Beziehungen genommen worden. Es bleiben aber zahlreiche weitere: allen voran in der Person des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel und von sieben weiteren Deutschen, die aus politischen Gründen in der Türkei in Haft sitzen und deren Freilassung die Bundesregierung seit Monaten fordert. Yücel ist inzwischen seit mehr als 300 Tagen hinter Gittern - ohne Anklage. Um wen es sich bei den anderen sieben Deutschen handelt, ist nicht bekannt; ihre Familien wollen keine Öffentlichkeit.

Auf eine Aussöhnung mit der Türkei, solange Deniz Yücel im Gefängnis sitzt, wird sich keine Bundesregierung einlassen können. Und selbst nach einer Freilassung ist fraglich, ob die Deutschen die Krise so einfach vergessen werden. Erdogans Nazi-Beschimpfungen aus dem Frühjahr sind in Deutschland unvergessen.

Tolu will weiter als Journalistin arbeiten

Unklar ist auch, ob der neue Kurs der Aussöhnung nur Kosmetik ist, um wirtschaftliche Kratzer zu übertünchen, oder ob er innerer Überzeugung entspringt. Zweifel an der Ernsthaftigkeit wecken etwa Aussagen des AKP-Abgeordneten Burhan Kuzu, der CNN Türk nach Angaben des Senders erst am Wochenende sagte, die Deutschen hätten nicht nur die Gezi-Proteste vom Sommer 2013 geplant, sondern seien auch mitverantwortlich für den Putschversuch vom Juli 2016. "Die Deutschen haben seit jeher ein doppeltes Spiel mit den Türken gespielt."

Für Mesale Tolus Familie spielte die Weltpolitik am Montag nur eine Nebenrolle. Ihr Ehemann Suat Corlu - der Vater des gemeinsamen vierjährigen Sohnes - war erst vor kurzem aus der U-Haft entlassen worden. Dass seine Frau ihm nun folgt, dürfte für ihn das schönste Geschenk sein: Er hatte am Dienstag Geburtstag. Nach der Gerichtsentscheidung schickten sich die Angehörigen an, Mesale Tolu vom Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy abzuholen, wo sie siebeneinhalb Monaten lang eingesperrt war.

Gegen die Ausreisesperre seiner Tochter werde man zwar juristisch vorgehen, kündigte Ali Riza Tolu an. Andererseits wolle Mesale Tolu ohnehin in Istanbul bleiben - und dort weiterhin als Journalistin arbeiten. "Sie denkt nicht daran, ins Ausland zu reisen."

(APA/dpa/Can Merey und Linda Say)

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