Die Briten rücken vom Brexit ab

Theresa May brachte der erste Durchbruch bei den Brexit-Verhandlungen daheim neue Kontroversen.
Theresa May brachte der erste Durchbruch bei den Brexit-Verhandlungen daheim neue Kontroversen.(c) APA/AFP/EMMANUEL DUNAND
  • Drucken

Premierministerin Theresa May verspricht: „Ich lasse mich nicht von meinem Kurs abbringen.“ Aber die Stimmung im Land kippt, eine knappe Mehrheit ist für den EU-Verbleib.

London. Während die britische Premierministerin, Theresa May, am Montag ihr Kabinett zu Beratungen über die künftige Brexit-Strategie zusammentrommelte, bekommen die Briten erste Zweifel am EU-Austritt. Nach einer Umfrage für die Tageszeitung „Independent on Sunday“ sprechen sich aktuell 51 Prozent für den Verbleib in der Union aus (41 Prozent für Austritt, Rest unentschlossen). Studienleiter Michael Turner vom Meinungsforschungsinstitut BMG Research: „Wir sehen eine graduelle Verschiebung der Mehrheit in Richtung EU-Verbleib.“

Diese Umkehrung ist vor allem den bisher Unentschlossenen geschuldet: „Jene Wähler, die 2016 nicht an der Volksabstimmung teilnahmen, sind heute in überwältigender Mehrheit für den Verbleib“, meinte Turner. In der Volksabstimmung im Juni 2016 hatten 51,8 Prozent für den EU-Austritt gestimmt.

Gewandelt hat sich auch die Meinung über eine zweite Volksabstimmung: Vor einem Jahr hatten die Gegner eines neuen Referendums 19 Prozentpunkte Vorsprung. Heute liegen die Befürworter mit 16 Punkten voran. Der ehemalige konservative Staatssekretär David Willetts zur „Presse“: „Ein zweites Referendum ist unwahrscheinlich, aber nicht länger ausgeschlossen.“

In der öffentlichen Debatte bedeutet der Meinungsumschwung einen gravierenden Einschnitt, denn bisher konnten die Brexit-Anhänger unwidersprochen für sich in Anspruch nehmen, den „Willen des Volkes“ umzusetzen. Diesen Kurs will auch Premierministerin Theresa May fortsetzen: „Ich lasse mich nicht von meinem Kurs abbringen. Es ist meine Pflicht, die demokratische Entscheidung des Volkes umzusetzen“, betonte sie vor den zweitägigen Regierungsberatungen. Der Abschluss der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen eröffne die Chance, nun eine „neue, tiefe und besondere Partnerschaft mit der EU“ zu errichten. May: „Unser Ehrgeiz und Einfallsreichtum kennen keine Grenzen.“

Querschüsse von Johnson

Der Aufruf der Premierministerin richtete sich ebenso an das Volk wie an ihre tief gespaltene Partei. Außenminister Boris Johnson schien zuletzt von der mit Brüssel vereinbarten „regulatorischen Anpassung“ schon wieder abzurücken, indem er erklärte: „Wenn wir nicht unsere eigenen Gesetze machen können, werden wir vom Mitgliedstaat zum Vasallenstaat.“ Zugleich versprach hingegen Schatzkanzler Philip Hammond der Wirtschaft: „Was wir am Ende wollen, ist eine Kopie des Status quo.“

May versuchte gestern vor dem Unterhaus einmal mehr, es allen Seiten recht zu machen: „Wir wollen den gegenseitigen Marktzugang wie bisher fortsetzen“. Dies soll vorerst für eine Übergangsperiode von zwei Jahren gelten. In dieser Zeit sollen Verhandlungen über neue bilaterale Handelsabkommen geführt werden. EU-Chefverhandler Michel Barnier erteilte britischen Hoffnungen allerdings eine Abfuhr: „Die Briten werden verstehen müssen, dass es kein Rosinenklauben geben wird“, sagte er dem Magazin „Prospect“. Die EU werde keine Sonderregelungen dulden, vielmehr gelte: „Die Briten werden mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung leben müssen.“

Die Spaltung in der Regierung zieht sich auch durch die konservative Parlamentsfraktion. Nach der Abstimmungsniederlage in der Vorwoche droht May schon morgen, Mittwoch, eine neue Schlappe beim Votum über eine Vorlage, die den 29. März 2019 per Gesetz zum EU-Austrittstag erklären soll.

Die Fraktionsführung reagiert auf Widerspruch zunehmend allergisch. Konservative, die in der Vorwoche gegen die Regierung gestimmt hatten, wurden nicht nur von den Anti-EU-Medien öffentlich gebrandmarkt. Sie wurden auch zum Parteiaustritt aufgefordert und eingeschüchtert. Charles Powell, einst außenpolitischer Berater von Premierministerin Margaret Thatcher und heute Baron im Oberhaus, meint: „Der Zwiespalt über Europa in der Partei ist so tief, dass die Spaltung der Konservativen praktisch unausweichlich sein wird.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Europa

Britische Regierung schließt zweites Brexit-Referendum aus

Die Herzen der Europäer seien "offen". Doch das Angebot von EU-Kommissionspräsident Juncker und EU-Ratspräsident Tusk zum Verbleib in der EU, stößt bei der britischen Regierung auf Ablehnung.
 Dominic Grieve.
Europa

„Eine neue Abstimmung zum Brexit ist möglich“

Interview. Der konservative Abgeordnete Dominic Grieve fürchtet um die Stellung Großbritanniens nach dem Austritt aus der EU.
Europa

Brexit: Ex-Premier Blair warnt vor Austritt weiterer EU-Staaten

Derzeit herrschten in den verbleibenden EU-Staaten die Ängste, die zum Austritt Großbritanniens geführt haben, sagt Tony Blair. Darauf müsste die EU reagieren.
Europa

Der Brexit ist "ein Crash in Zeitlupe"

Der ehemalige britische Staatssekretär David Willetts warnt im "Presse"-Interview vor dem Verlust der Mitte in Großbritanniens Gesellschaft.
Bei der Auswahl des Brexit-Menüs haben die Briten ähnlich wenig Spielraum wie bei der Gestaltung ihrer Leibspeise Fish and Chips – die Teilnahme am EU-Binnenmarkt gibt es nur bei der Einhaltung der EU-Spielregeln. Brüssel lehnt einen Marktzugang à la carte entschieden ab.
Europa

Ohne Grenzkontrollen wird es nicht gehen

EU/Großbritannien. Wie man es dreht und wendet – die einzige Variante, bei der die britischen Außengrenzen nicht in irgendeiner Form überwacht werden müssen, ist die Teilnahme Großbritanniens an Binnenmarkt und Zollunion der EU.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.