Gastkommentar

EU klagt an: Der polnische Rechtsstaat ist in Gefahr

Die EU-Kommission hat wegen der Unterminierung der Gewaltenteilung ein Grundrechtsverfahren gegen Polen eingeleitet.

Wir können nicht hinnehmen, dass die EU in Budgetfragen über jede Dezimalstelle intensiv diskutiert, aber schwere und systematische Verstöße von Mitgliedstaaten wie Polen gegen fundamentale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte nicht anspricht“, erklärte jüngst der französische Präsident, Emmanuel Macron.

Seine Kritik an Polens jetziger Innen- und Justizpolitik stützt er auf Artikel 2 des EU-Vertrages. Diese Vorschrift verpflichtet die EU und ihre Mitgliedstaaten zur Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Staaten, die der EU beitreten wollen, müssen nachweisen, dass sie diese europäischen Verfassungswerte achten und fördern.

Der Rat der EU soll gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags dafür sorgen, dass sie ihre Verpflichtung auch nach dem Beitritt einhalten. Er kann Sanktionen gegen Staaten verhängen, die massiv gegen diese Werte verstoßen, was zum Teil dramatisierend als „nukleare Option“ bezeichnet wird. Lange hat die Europäische Kommission gezögert, beim Rat die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens gegen Polen zu beantragen. Nun aber hat Polen eine rote Linie überschritten, weshalb sich die Kommission gestern entschlossen hat, diesen Schritt zu gehen.

Demontage des Rechtsstaats

Wie kam es dazu? Bekanntlich hat bei den polnischen Parlamentswahlen im Oktober 2015 eine Partei die absolute Mehrheit errungen, die ironischerweise den Namen Recht und Gerechtigkeit (PiS) trägt. Die von dieser Partei dominierten staatlichen Institutionen unternehmen seitdem alles, um den Rechtsstaat zu demontieren. Mit einer Serie äußerst umstrittener „Reformen“ sollen die unabhängige Justiz der Kontrolle der Regierungspartei unterworfen, die Gewaltenteilung eliminiert und auf diese Weise jede Form von Opposition erschwert werden.

Die erste Attacke der PiS traf im Dezember 2015 den Verfassungsgerichtshof. Dessen Arbeit wird nun durch ein neues Verfahrensgesetz erheblich erschwert. Das Verfassungsgericht hat diese Regelung zwar für verfassungswidrig erklärt, sie wurde trotzdem von der Regierung umgesetzt. Zudem bestellte Präsident Andrzej Duda, ein Vertrauter des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, in verfassungswidriger Weise neue Verfassungsrichter, die der PiS nahestehen.

Nachdem die Regierungspartei auf diese Weise die Kontrolle über das Verfassungsgericht übernommen hat, verschlechterte sich die Lage des Rechtsstaats in Polen weiter – und zwar massiv. Im Frühjahr 2016 wurde die gesamte Staatsanwaltschaft unmittelbar den Weisungen des Justizministers unterstellt. 2017 nahm sich die Regierungspartei dann die ordentliche Gerichtsbarkeit vor.

Neue Gesetze geben dem Justizminister das Recht, jederzeit die Präsidenten der polnischen Gerichte sowie die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs zu entlassen. Außerdem stellen sie das Gremium von Richtern, das bisher unabhängig über die Ernennung und Beförderung von Richtern entscheidet, unter den direkten Einfluss des PiS-dominierten Parlaments. Schließlich erhält der Justizminister die Möglichkeit, in bestimmten Fällen rechtskräftige Gerichtsurteile, die bis zu 20 Jahre zurückliegen, durch eine außerordentliche Klage vor dem Obersten Gericht anfechten zu können.

Diese Regelung höhlt nicht nur die Rechtssicherheit aus, sondern kann auch dazu missbraucht werden, Urteile zu kassieren, die der Regierungspartei aus politischen Gründen nicht gefallen.

Polen schaltet auf stur

Dieses Maßnahmenpaket verstößt eklatant gegen das Prinzip der Gewaltenteilung und das Recht auf ein faires Verfahren vor unabhängigen Gerichten, die beide durch den EU-Vertrag und die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt sind. Deshalb hat sich die Europäische Kommission in ihrem seit Anfang 2016 mit Polen geführten rechtsstaatlichen Dialog kritisch zum Umbau der Justiz geäußert. Auch der Europarat hat in diversen Stellungnahmen diese „Justizreformen“ verurteilt.

Polens Regierung hat jedoch auch unter dem neuen Ministerpräsidenten, Mateusz Morawiecki, sämtliche Bedenken als politisch motiviert abgetan und wiederholt darauf verwiesen, dass es sich dabei um eine innere Angelegenheit Polens handele, die Brüssel nichts anginge. Dass diese Annahmen nicht zutreffen, wurde eingangs gezeigt: Der EU-Vertrag verpflichtet alle Mitgliedstaaten verbindlich, das Rechtsstaatsprinzip und die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten.

Die Sturheit, mit der Polen das Rechtsstaatsprinzip missachtet, ließ der EU keine andere Wahl, als erstmals ein entsprechendes Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Der Rat der EU soll demnach auf Antrag der Kommission und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Rechtsstaatlichkeit durch Polen besteht.

Ein wichtiges Warnsignal

Ein solcher Beschluss, den der Rat der Außenminister mit einer Mehrheit von 4/5 seiner Mitglieder (ohne polnische Beteiligung) fassen kann, hat keine unmittelbaren Folgen. Erst in einer weiteren Eskalationsstufe könnte das Stimmrecht Polens in den Gremien der EU ausgesetzt werden. Dies jedoch muss der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs einstimmig beschließen, womit angesichts des angekündigten Vetos von Ungarn nicht zu rechnen ist.

Finanzielle Sanktionen gegen Polen oder gar dessen Ausschluss aus der EU sind im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrags nicht möglich. Bereits ein bloßer Feststellungsbeschluss trifft Polen jedoch wegen der damit verbundenen politischen Prangerwirkung hart. Er ist auch ein wichtiges Warnsignal an andere Staaten.

Der Ball liegt nunmehr beim Rat der EU und damit bei den Regierungen der Mitgliedstaaten. Diese müssen sich jetzt der Frage stellen, wie sie zum Verfall grundlegender europäischer Werte der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte stehen, den in den vergangenen Jahren einige Mitgliedstaaten vorangetrieben haben. Präsident Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben sich dazu bekannt, dass die EU auf diese Entwicklung reagieren muss. Doch müssen im Rat 22 Mitgliedstaaten die Feststellung befürworten, dass der polnische Rechtsstaat in Gefahr ist. Es ist zu hoffen, dass diese Mehrheit zustande kommt.

Es geht um Glaubwürdigkeit

Die EU muss ein einheitliches und klares Signal aussenden, dass sie ihre eigenen Werte ernst nimmt. Tut sie dies nicht, sondern sieht sie stattdessen weiter zu, wie ihre Werteordnung von einigen Mitgliedstaaten unterminiert wird, dann setzt sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wenn sich die Mitgliedstaaten im Rat jetzt nicht entschieden gegen die systematische Zerstörung europäischer Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte stellen, dann können sie sich weitere Debatten über eine Reform der EU, wie sie von der Europäischen Kommission angekündigt wurde, sparen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Univ.-Prof. Dr. Werner Schroeder,
LL.M. (geb. 1962 in Köln) lehrt und forscht an der Uni Innsbruck im Europäischen Verfassungs- und Wirtschaftsrecht und leitet seit 2005 das dortige Institut für Europarecht und Völkerrecht. 2016 veröffentlichte er ein Buch über die Rechtsstaatskrise in der EU mit dem Titel „Strengthening the Rule of Law in Europe“. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2017)

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