Gabriel: Brexit kann Vorbild für EU-Türkei-Beziehungen sein

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Der deutsche Außenminister plädiert für eine enge Zollunion mit Ankara. Einen EU-Beitritt der Türkei schließt er aufgrund der Menschenrechtslage aus. Die türkische Regierung sorgt mit neuen Notstandsdekreten für Empörung.

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel plädiert für eine neue Form der Zusammenarbeit mit der Türkei und der Ukraine. "Wenn wir ein kluges Abkommen mit Großbritannien hinbekommen, das die Beziehungen zu Europa nach dem Brexit regelt, könnte das ein Modell für andere Länder sein: die Ukraine und auch die Türkei", sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

"Eine Möglichkeit wäre, mit Ankara eine neue, engere Form der Zollunion anzustreben. Das geht aber nicht, solange sich die Lage in der Türkei nicht wieder ändert", so Gabriel. Der deutsche Außenminister unterstrich, er könne sich für die nächsten Jahre weder die Türkei noch die Ukraine als Mitglied der Europäischen Union vorstellen. "Daher müssen wir über alternative Formen einer engeren Zusammenarbeit nachdenken."

In der Türkei gebe es den Willen, zu einem besseren Verhältnis mit Europa zu kommen. "Und den gibt es auch bei uns", sagte der Außenminister. Es sei ein gutes Zeichen, dass zuletzt mehrere in der Türkei inhaftierte Deutsche freigekommen seien. Allerdings bleibe die große Sorge um den "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel. "Die Türken wissen, wie wichtig sein Schicksal für uns ist."

Auch die neue türkis-blaue Regierung hat einen ähnlichen Vorschlag gemacht. Das Ziel für Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Christian Stache ist ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen – „zugunsten eines europäisch-türkischen Nachbarschaftskonzepts“, wie es im Koalitionspakt heißt. Für dieses Vorhaben will man sich Verbündete in Europa suchen.

Erdogan bemüht sich um besseres Verhältnis

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan war zuletzt um ein besseres Verhältnis zu Deutschland und Europa bemüht. Davon zeugt die liberalere Politik gegenüber deutschen Häftlingen in der Türkei. Seit Ende Oktober ordneten türkische Gerichte bei vier Deutschen die Entlassung aus der Haft oder die Aufhebung ihrer Ausreisesperre an. Der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel und mehrere andere deutsche Bürger sitzen aber weiter in türkischer Untersuchungshaft.

Gleichzeitig sorgte die Regierung in Ankara mit dem Erlass mehrerer Notstandsdekrete für Aufruhr in der Opposition. In einem Dekret werden nicht nur Handlungen gegen den Putschversuch und die "terroristischen Taten" vom Juli 2016 straffrei gestellt, sondern auch solche, die sich gegen "die Fortsetzung davon" richten.

Die Opposition befürchtet einen Freifahrtschein für politisch motivierte Gewalttaten. Die Anwaltskammer warnte vor Lynchjustiz. Justizminister Abdülhamit Gül betonte dagegen am Dienstag, das Dekret sei keine unbefristete Blanko-Amnestie, sondern decke nur die Tage des Putschversuches ab. Allerdings: Im Text des Dekrets 696 ist das so eindeutig nicht formuliert.

Opposition kritisiert Dekrete scharf

Die Sorge der Opposition liegt darin begründet, dass die Regierung Kritiker häufig in die Nähe von Putschisten und Terroristen rückt. Entsprechend empört fielen die Reaktionen auf das Dekret aus, das im Ausnahmezustand nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden kann und das mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger am Sonntag in Kraft trat - eine Zustimmung des Parlaments ist erst nachträglich nötig. "So etwas geschieht in Diktaturen, die die Gesellschaft mit einer zivilen Miliz einschüchtern und terrorisieren wollen", sagte der Sprecher der größten Oppositionspartei CHP, Bülent Tezcan.

Selbst Erdogans Amtsvorgänger Abdullah Gül, der zu den Mitbegründern der AKP gehört und sich mit Kritik an der Regierung gewöhnlich zurückhält, warnte vor der vagen Formulierung des Dekrets. "Ich hoffe, dass es überprüft wird, damit es keine Ereignisse und Entwicklungen ermöglicht, die uns in Zukunft alle beunruhigen würden", teilte der frühere Staatspräsident auf Twitter mit.

Neben dem umstrittenen Erlass 696 traten am Sonntag noch weitere Dekrete in Kraft, mit denen die Massenentlassungen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung fortgesetzt wurden und die verfügen, dass männliche Putsch- oder Terrorverdächtige künftig in braunen beziehungsweisen grauen Overalls vor Gericht erscheinen müssen.

(APA/dpa/Reuters/red.)

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