Was bringt Liebe?

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Management im Kopf: Folge 83. Komplexität und Menschenführung: Über Aufmerksamkeiten und Aufmerksamkeit.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Weihnachten also. Das Fest der Liebe passt bestens zu den Fragen der Menschenführung und zu den Fragen des Komplexen. Unzählige Philosophen, Wissenschaftler und Künstler haben sich ihre Gedanken über die Liebe gemacht. Die einzig wahre Antwort darauf hat noch keiner gefunden, ich denke, man wird sie auch nie finden. Jeder muss die Fragen der Liebe selbst lösen, und seine Antworten darauf auch selbst verantworten. Darum zerbricht sich früher oder später jeder den Kopf über sie, oft besonders zu Weihnachten und spätestens in seinen letzten Tagen. An Weihnachten schenkt man auch. Kleinere oder größere Aufmerksamkeiten. Aber kaum ein Arbeitgeber außerhalb der 24/7/365-Betriebe verlangt an diesen Tagen von seinen Arbeitnehmern, dass sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Job schenken. Wenn wir also schon beim Schenken sind: Was gibt die Liebe für die Menschenführung her?

Ein ziemliches Wagnis

Das mit der Liebe ist so dermaßen komplex, dass es grundsätzlich ein ziemliches Wagnis ist, sich mit ihr näher auseinanderzusetzen. Denn, wie jeder weiß, bringt sie nicht nur Gutes. So mancher hat schon aus Liebe gemordet, andere haben sich ihretwegen umgebracht. Weil er vieles kaputt macht, auch Weihnachtsfeste allemal, will ich mit diesen düsteren Hinweisen den romantischen Blick auf die Liebe vorweg desillusionieren.

Die Kybernetik der Liebe

Betrachtet man Liebe mithilfe der Denkschule der Kybernetik, ist das weitaus fruchtbarer. Welche Zwecke erfüllt Liebe? Welche Ziele erlaubt sie, zu erreichen? Das wären typische Fragen dieser auf Komplexes ausgerichteten Systemwissenschaft. Sie beurteilt komplexe Angelegenheiten prinzipiell ausgehend von Zwecken und Zielen, die verfolgt werden wollen oder sollen. Man könnte auch fragen: In welcher Form trägt Liebe zum Erfüllen eines bestimmten Zweckes bei und zum Erreichen eines bestimmten Zieles?

Der Zweck von Liebe

Was ist der Zweck von Liebe? Lassen wir die vielen Gefühle, Sehnsüchte, Hoffnungen, Glücksmomente, Verletzungen und Enttäuschungen einmal beiseite, die mit Liebe zusammenhängen. Fragen wir stattdessen, was durch Liebe immer und überall passiert. Sie steuert die Aufmerksamkeit, und zwar auf die Menschen, Wesen, Dinge und Situationen, die wir lieben. Sie steuert unsere Sinne und Gedanken auf das, was uns wertvoll, ja liebens- und erstrebenswert erscheint. Was wir lieben, vergessen und übersehen wir nicht so leicht.

Das Ziel von Liebe

Was gewinnt man dadurch, dass man liebt? Was gewinnen wir durch das Fokussieren der Aufmerksamkeit auf jemanden oder etwas? Wir gewinnen mehr relevante Information. Lieben wir einen Menschen, suchen wir die Antworten auf solche Fragen: Wo ist er? Was macht er? Geht es ihm gut? Kommt er zurecht? Lieben wir etwas, fragen wir: Ist es in Ordnung? Funktioniert es? Ist es gut beisammen? Denen und dem, was wir lieben, begegnen wir viel eher mit Sorge, um ihn bzw. dieses kümmern wir uns mit viel höherer Wahrscheinlichkeit.

Die Verwechslungen mit Liebe

Je komplexer etwas ist, umso eher tritt auch die Wahrscheinlichkeit von Verwechslungen auf. Bei der Liebe ist das allemal der Fall. Sehnsucht zum Beispiel ist eine Begleiterscheinung von Liebe, aber es ist nicht die Liebe selbst. Mit dem Bedürfnis, geliebt zu werden, muss man noch lange nicht lieben. Begehren oder Begierde können das Gegenteil von Liebe sein, erst recht der Wunsch, jemanden bzw. etwas an sich binden, besitzen, beherrschen oder nach eigenen Vorstellungen prägen zu wollen. Man erkennt an solchen Verwechslungen ein weiteres Merkmal von Liebe: Sie ist immer mit starken Bedürfnissen verbunden.

Die Bedürfnisse der Liebe

Aber welche Bedürfnisse weckt sie? Liebe steuert nicht nur die Aufmerksamkeit für das Suchen und Gewinnen von Information. Sie weckt nicht nur das Bedürfnis, sich um geliebte Menschen, Tiere, Pflanzen oder Dinge zu kümmern. Sie führt zum Bedürfnis, die Entwicklung geliebter Wesen und Dinge in die bestmögliche Richtung zu bringen. Sie löst das Bedürfnis aus, geliebten Wesen und Dingen gerecht zu werden, das zu tun, was diese brauchen, anstatt nur an sich selbst zu denken. Aus Liebe hilft man sich selbst, indem man anderen hilft. Aus Liebe braucht man es, für jemanden oder etwas da zu sein. Liebe richtet das eigene Verhalten am Not-Wendigen aus. Sie bringt einen dazu, auch Unbequemes zu tun, weil man es aus sich selbst heraus – aus Liebe eben – tun muss. Sie führt zu diesem „hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Liebe ist eine Eigendynamik für das Beste.

Der Lohn der Liebe

Bei aller Liebesmühe verspricht die Liebe aber nicht unbedingt unmittelbaren Lohn. „Vergebliche Liebesmüh“ ist nicht von ungefähr ein geflügeltes Wort. Erst wenn Liebe unter Menschen wechselseitig stattfindet, bringt sie das Gute und Schöne. Liegt sie nur einseitig vor, kann sie ziemlich bitter ausfallen. Erst wenn die geliebte Sache erhalten bleibt, nicht kaputt oder verloren geht, macht sie froh. Einen ersten Lohn gibt es aber sicher: Jemanden oder etwas zu lieben, mobilisiert immer die Kraft, sich für jemanden oder etwas zu engagieren. Die Kraft von Eltern zum Beispiel, trotz aller Müdigkeit nachts viele male für ihre weinenden Kinder aufzustehen.

Menschenliebe

Ja, wenn sich bloß alle Menschen lieben würden, wäre das Leben so schön. Bis es so weit ist, hilft träumen jedoch wenig. Geht es um die Fragen der Menschenführung, kann man bis dahin einen kleinen, aber hilfreichen Unterschied machen: Man muss nicht alle Menschen lieben und von allen geliebt werden. Man kann sich dafür entscheiden, die Menschen an sich zu lieben. Das wird die nötige Aufmerksamkeit für das Menschsein bringen. Man wird sich selbst und andere viel besser kennen und verstehen lernen, sich selbst und andere viel eher unterstützen wollen. Man wird bald verstehen, dass es keine gesunde Menschenliebe ohne gesunde Selbstliebe gibt. Nur wer auch sich selbst ausreichend liebt, kann die Menschen, kann auch andere lieben.

Liebe im Erwerbsleben

Im Erwerbsleben geht es nicht nur um Menschenliebe. Hier ist es von äußerstem Vorteil, wenn Menschen auch ihre Berufe, Aufgaben und Situationen lieben. Intelligente Menschenführung verlangt hier besonders weitsichtige Fragen: Wie muss ein Zusammenarbeiten gestaltet sein, damit es allen leicht fällt, sowohl die Menschen als auch die anfallenden Aufgaben und Probleme zu lieben? Was hilft, die nötige Aufmerksamkeit und das erforderliche Interesse für diese zu gewinnen? Was weckt das Bedürfnis nach gelungenen Lösungen? Wodurch werden Menschen Tag für Tag aufs Neue froh, ihrer Arbeit nachgehen zu dürfen?

Keine Liebe ohne Strenge

Wahre Liebe kommt wo nötig auch mit Strenge daher. Die meisten Mütter zum Beispiel sind bereit, fast alles für ihre Kinder zu tun. Aber keine liebende Mutter, die bei Trost ist, würde ihr trotziges Kind bei einer roten Ampel über die Straße laufen lassen, nur weil drüben der Sandkastenfreund auftaucht. Sie würde es mit aller Strenge zurückhalten, und wenn nötig, auch anschreien. Aus wahrer Liebe lässt man nicht immer das zu, was ein geliebter Mensch gerade möchte. Man schaut für ihn weiter voraus, als er es gerade kann. Besonders darin müssen auch Führungskräfte hervorstechen.

Entwicklungshilfe

Menschen zu lieben, bedeutet, sie in all jenen Situationen vor sich selbst zu beschützen, in denen sie sich selbst zur Gefahr werden – aus Unwissen, Unerfahrenheit, Unachtsamkeit, Unbedachtheit, Müdigkeit, Krankheit, Betrunkenheit, usw. Und in all jenen Fällen, in denen sie sich selbst im Weg stehen – aus Angst, mangelnder Selbstachtung, Selbstliebe, Selbsteinschätzung. Ein liebender Mensch sieht an einem geliebten Menschen, Wesen, an einer geliebten Sache oder Situation, was dieser oder diese (sein) könnte. Ein liebender Mensch ist quasi ein Visionär und Entwicklungshelfer für das Bestmögliche. In seinem Denken und Handeln für das Beste entwickelt er sich auch selbst. Auch das ist ein Lohn der Liebe, den man immer bekommt.

Vorsorge, Versorgen, Fürsorge, Umsorgen

Wer jemanden wahrlich liebt, der wird alle ihm mögliche Vorsorge treffen, um ihn in größtmögliche Freiheit zu führen. Er wird ihn aber auch mit allem versorgen, was ihm zur Verfügung steht, um dessen erforderliche Sicherheit zu gewährleisten. Es wird ihm auch abverlangt sein, für die Fürsorge, die den anderen und ihn selbst zufrieden macht, die nötige Kooperation einzubringen und einzufordern. Er wird den geliebten Menschen, wenn dieser in einer echten Krise steckt (wenn er also nicht mehr weiterkommt, wenn er sich nicht weiterentwickelt), auch immer so weit umsorgen, dass seine Entwicklung in der nötigen Geborgenheit Fortschritte machen kann.

Freiheit und Sicherheit, Zufriedenheit und Geborgenheit

Die Allgemeinen Menschenrechte setzen nicht von ungefähr an der Freiheit und Sicherheit der Menschen als angeborene Grundrechte an. Und nicht von ungefähr spricht vieles dafür, dass die Liebe eine angeborene Steuerungs- und Regulierungseinrichtung des Lebens ist, vielleicht sogar das wichtigste und wertvollste kybernetische Phänomen. Sie führt die Inputs für das Überleben und die Entwicklung des Menschen herbei und die nötigen Korrekturen, wenn sie in Gefahr ist. Sie erleichtert das Kooperieren und ermöglicht die nötige Geborgenheit, die wir für die Regeneration und Evolution brauchen.

Die Dynamik der Liebe

Freiheit, Sicherheit, Zufriedenheit und Geborgenheit – diese Grundanliegen aller Menschen – sind in unausweichlichen Rückkoppelungen doppelt miteinander verkettet. Sie steuern und regulieren wechselseitig alles, was unter Menschen passiert. Sie bedingen einander in jede Richtung. Das eine ohne das andere gibt es nur verbunden mit Leid. Geborgenheit gibt es überhaupt nur, wenn auch die drei anderen Anliegen erfüllt sind. Leid treibt Verbesserungen an. Leid kommt heraus, wenn aus Verbesserungsversuchen Veränderungen werden, die zu Verschlechterungen führen, zu Verschlimmbesserungen, wie das Georg Christoph Lichtenberg genannt hat. Wo die Liebe hinfällt, da beginnt das Leid, heißt es oft. Aber damit hört es nicht auf. Wo die Liebe hinfällt, da beginnt das Leid, da beginnt der Antrieb zur Verbesserung, und mit jedem Missgeschick beginnt der Antrieb und die Kraft zum Lernen, Liebe vorausgesetzt.

Liebe ist Arbeit

Das erklärt, weshalb wahre Liebe nicht nur ein Gefühl für bzw. von jemanden ist. Sie ist und sie will vor allem geistige und körperliche Arbeit. Sie führt einem zum Lernen, zum Dazulernen und zum Weiterlernen, weil wir aus Liebe wollen, dass die Dinge besser werden als sie sind, dass sie so gut werden, wie sie sein können. So gesehen, erklärt die Liebe auch das Schöne. Sie erklärt alles Schöne. Denn alles Schöne macht immer ein bisschen und oft sogar deutlich mehr Arbeit als das weniger Schöne. Auch zu Weihnachten.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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